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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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und auch Menschen, die aufgrund von Krankheit und Behinderung wenig mobil sind, können am virtuellen Leben teilhaben; selbst für ausgefallene Interessen lassen sich mühelos Gleichgesinnte finden. Wie groß das Bedürfnis danach ist, zeigen zahlreiche Chats , Portale und Partnerbörsen. Niemand muss sich mehr einsam und verlassen fühlen, jeder kann jederzeit mit jedem in Kontakt treten, rund um die Uhr, rund um den Planeten, ein »keep in touch all over the world«.
    Die virtuelle Beziehung ist grundsätzlich eine globale Beziehung , wie es sie nie zuvor gegeben hat. Überkommene Koordinaten von Raum und Zeit lösen sich bei einem solchen Kommunikationsradius auf, kulturelle Bezugspunkte und hermeneutische Gegebenheiten geraten durcheinander, und ein Gefühl von Verwirrung stellt sich ein. Zu allen Zeiten haben Menschen Kulturschocks erlebt, im 21. Jahrhundert aber wird die Erfahrung epidemisch: Begleitphänomen der Entstehungdes globalen Menschen , der stets in der Lage sein wird, sich auf andere Menschen und Situationen in den unterschiedlichsten Regionen des Planeten einzustellen, universell flexibel, nirgendwo verwurzelt, an keinem Ort wirklich zu Hause – falls das wirklich lebbar ist. Auf andere als herkömmliche Weise kommen nun wieder Gemeinschaften ( communities ) zustande, bis hin zur Gemeinschaft aller Nutzer, die bei der Arbeit an Projekten wie Linux oder Wikipedia zu einem »Großhirn« zusammenwachsen. Online kann jeder das Zwitschern ( twitter ) aller Beteiligten mitverfolgen und sich selbst als Teil eines Supersubjekts namens Menschheit erfahren, bestehend aus Menschen aller Kulturen, die sich nie zuvor begegnet sind und nur auf diesem Weg zueinander finden.
    Die bekannte Skala der Beziehungen tut sich dabei neu auf: Virtuell kann nun geliebt, Freundschaft geschlossen, privat und geschäftlich kooperiert werden; virtuell können Menschen auch funktionieren und streiten. Der agonalen Beziehung bietet sich zudem eine ideale Bühne, um Andere nach Belieben öffentlich anzuschwärzen und anzufeinden, ohne dafür einstehen zu müssen. Die ausschließende Beziehung kann zwar unterlaufen werden, da der Ausgeschlossene umgehend anderswo im Netz Anschluss findet; wenn jedoch der virtuelle Ausschluss auf reale Lebensverhältnisse übertragen wird, wirkt er sich stärker aus als jeder andere: Gegen ein Cyber-Mobbing ist kaum anzukommen. Vor allem die Beziehungen der Liebe und der Freundschaft stehen in Zeiten virtueller Unverbindlichkeit vor neuen Herausforderungen: Unproblematischer als bei realen Liebschaften und Freundschaften ist ein Partnerwechsel möglich, jederzeit auch ein endgültiger Rückzug vom Anderen, ohne begründet werden zu müssen. In ungleich schnellerem Wechsel als bei realenBeziehungen geschehen nicht nur die Kontaktaufnahme, sondern auch die Distanznahme.
    Die Explosion von Möglichkeiten erschwert das Wirklichwerden von Beziehungen. Es fehlt an verlässlichen Anhaltspunkten des Verhaltens, auch Konventionen bedeuten nichts. Die Beteiligten kennen sich oft nicht mit Namen, geschweige denn mit realer Adresse; beliebig können sie ihre Identität wechseln, und sollten sie einander verletzen, ist das nicht wirklich zu sanktionieren. Irgendwann aber sind sie versucht, sich doch wirklich kennen lernen zu wollen, face to face statt interface . Ein Mensch, der irgendwo auf der Welt vor dem Bildschirm sitzt und jemanden findet, der sein Interesse weckt, will irgendwann nicht mehr nur chatten , sondern daten , Zeit und Ort für ein Treffen vereinbaren: Virtualität als Vorbereitung auf die Realität, um in der körperlich-seelisch-geistigen Präsenz endlich wieder die gesamte Fülle des Menschseins zu erfahren. Bei der realen Begegnung steht dann wieder die bekannte Skala der Beziehungen zwischen Liebe und Ausschluss zur Verfügung, mit allem, was dazugehört.
    Virtuelle Beziehungen schaffen sich ihre eigene Welt in Second Life , dieser Realisierung surrealer Träume, die erstmals 2003 online ging und wenig später schon Millionen von Bewohnern gefunden hatte (Sven Stillich, Second Life , 2007). Möglichkeiten, die im realen Leben ungelebt bleiben, lassen sich hier erproben, ein ersehntes anderes Leben ist in Echtzeit zu simulieren; echt ist freilich auch die erforderliche Bezahlung, ein erfolgreicher Neustart der »New Economy« nach ihrem Absturz im Jahr 2000. Dem virtuellen Selbst stehen alle Möglichkeiten der Selbstgestaltung offen, jeder Spieler modelliert seinen eigenen Avatar , wie im

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