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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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sich selbst nicht umzugehen weiß. Zuletzt macht ein guter Umgang mit sich den fehlenden Umgang mit Anderen erträglich, wie er nicht etwa erst beim Scheitern, sondern auch inmitten einer Beziehung immer wieder vorkommen kann. Warum aber überhaupt Beziehungen zu Anderen eingehen, warum nicht gleich ganz bei sich bleiben?

Aus sich herausgehen, dem Leben Sinn geben:
Ekstatisches Menschsein in Beziehungen
    Bei allen biologischen, kulturellen und individuellen Unterschieden scheint es gleichbleibende Eigenheiten des menschlichen Lebens, so genannte anthropologische Konstanten zu geben, die immer und überall vorzufinden sind: Menschen ängstigen sich und richten sich ein in Gewohnheiten, sie genießen Lüste und müssen zurechtkommen mit Schmerzen, sie hoffen auf Liebe und erleben Enttäuschungen, sie flüchten zu Freunden und haben Feinde, sie fragen nach Glück und suchen nachSinn, sie wissen um den Tod und geraten in Unruhe über ein Darüberhinaus. Ihr ganzes Leben hindurch folgen sie ihren Interessen und ignorieren, was sie nicht interessiert. Ihr besonderes Interesse aber gilt Beziehungen und ihrem jeweils aktuellen Stand. Wer zu wem in welchem Verhältnis steht, welche Veränderungen sich andeuten oder schon im Gange sind: Das ist der Gesprächsstoff, der sich nie erschöpft.
    Eine zusätzliche Konstante des modernen Menschseins ist offenkundig das Hin- und Hergerissensein zwischen dem Wunsch nach Beziehung, mehr noch nach ihrer Verfestigung zur Bindung , und dem Bedürfnis nach Freiheit , in der sich die Einzigartigkeit der Person austoben kann, ungehemmt von Bindungen. Sich von allen Bindungen befreien zu können, ihnen nicht ausgeliefert bleiben zu müssen, ist der Gewinn der Moderne für jeden Einzelnen. Problematisch ist jedoch, geradezu eine Pflicht zur Befreiung in sich zu spüren, der sich selbst ein klarsichtiger Denker wie Nietzsche nicht entziehen konnte: Als »radikaler Philosoph« bedürfe er einer »Freiheit von Beruf, Weib, Kind, Freunden, Gesellschaft, Vaterland, Heimat, Glauben« (Nachlass vom Sommer 1886 bis Herbst 1887, Kritische Studienausgabe , 12, 197). In der Summe entspreche dies einer »Freiheit fast von Liebe und Hass«. Leider, gesteht er, empfinde er auch »ebenso viel Entbehrungen«, denn er sei nun mal »ein lebendiges Wesen und kein bloßer Abstraktions-Apparat«. Im Grunde seien die Entbehrungen nur »in Momenten der Gesundheit« zu ertragen – die ihm selten genug vergönnt waren. Auf irgendeine Freiheit freiwillig zu verzichten, um sich zu schonen, fiel ihm nicht ein, an diesem Punkt ganz Kind seiner Zeit, deren Exzesse erst noch bevorstanden.
    In der Struktur der modernen Zeit selbst ist die»Bindungsunfähigkeit« angelegt, die vielfach beklagt wird; der moderne Anspruch auf Freiheit macht auch vor Notwendigkeiten nicht Halt: Es ist notwendig, in Beziehung zu leben? Ein Mensch kann dennoch darauf verzichten. Der Mensch ist ein soziales Wesen ( zoon politikon ), wie Aristoteles meinte? Nur noch dann, wenn er sich auch so verhält. Aus dem »sozialen Wesen«, das lange Zeit als Standardelement der Beschreibung des Menschseins galt, ist in moderner Zeit eine Formel der Beschwörung geworden, denn Menschen können sich in großem Stil davon befreien, zunächst in ihrer Wahrnehmung, sodann im wirklichen Verhalten. Daran kann auch der neurobiologische Nachweis nichts ändern, dass der Mensch von Natur aus auf Beziehung angelegt sei, gestützt auf die Erforschung der Rolle von Hormonen und Opioiden, die schon in kooperativen Beziehungen aus Zuwendung und Zuneigung »eine hochwirksame Medizin« machen (Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit , 2006, 59), sowie der Rolle von »Spiegelneuronen«, die im Gehirn eines Menschen die Eigenarten und Gefühle Anderer, ihre Zärtlichkeit, ihren Zorn, ihr Gähnen, ihr Lächeln, ihren Schmerz widerspiegeln: Soziale Resonanz, Mitgefühl und Mitleid werden dadurch ermöglicht, auch Eigenschaften und Verhaltensweisen von Vorbildern können auf diese Weise »eingespiegelt« werden.
    Aber der Mensch ist ein widersprechendes Tier, und so kann er auch seiner Natur widersprechen. Selbst das Wissen, dass das ungute Folgen für ihn selbst nach sich zieht, bewirkt noch lange kein entsprechendes Handeln. Und da die moderne Zeit nicht nur die Idee des befreiten, individuellen Lebens proklamiert, sondern einer wachsenden Zahl von Menschen auch die materiellen Ressourcen zur Realisierung verschafft, kommt es dazu, nicht mehr in Beziehung leben zu müssen ,

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