Die Liebe atmen lassen
wirklich in seiner Nähe beheimatet zu sein, ist die Erfahrung eines Gefühls, das so schmerzlich ist, dass es das Leben auf Dauer sehr schwer macht.
Entscheidet das Selbst sich nach all diesen Überlegungen für ein Leben zu zweit, verbunden mit einigen Vorstellungen davon, wie es gestaltet sein könnte, rücken die konkreteren Fragen ins Zentrum: Und mit wem? Und wo ist er oder sie zu finden? Selbst der Raum der Suche muss gewählt werden, wenngleich in den meisten Fällen die passive Wahl ausreicht, keinen besonderen Raum anzusteuern, denn die Liebe, die eigentlich überall entstehen kann, bevorzugt den Raum, der nahe liegt: Wohnumfeld und Arbeitsplatz. Weniger häufig ist sie dort zu finden, wo ihr mit aktiver Wahl erst Gelegenheit gegeben werden muss: In einschlägigen Szenetreffs und elektronischen Partnerbörsen. Deutlich seltener geht sie aus zufälligen Begegnungen sonst wo hervor. Mit elektronischer Hilfe lässt sich der langwierige Abgleich förderlicher und hinderlicher Faktoren, günstiger und ungünstiger Umstände abkürzen, sodass der Anteil an Gemeinsamkeiten von vornherein offen zutage liegt. Psychologische und soziologische Studien zeigen, welche Faktoren und Umstände dabei eine herausragende Rolle spielen: Eigenschaften wie Freundlichkeit und Offenheit, Ausgeglichenheit und Zuverlässigkeit; ein großer Anteil an gemeinsamen Interessen und Wünschen, Vorlieben und Abneigungen; vergleichbare Ebenen der Bildung und des Status (Gunter Burkart, Lebensphasen – Liebesphasen , 1997).
Letztlich muss dennoch eine persönliche Wahl getroffen werden, deren Gründe zumindest teilweise im Dunkeln bleiben. In den meisten Fällen ist die Liebe vermutlich, wieGesundheit und Krankheit, multifaktoriell bedingt . Die Faktoren und Umstände, die zu ihrem Entstehen beitragen, sind so vielgestaltig, dass der Einzelne selbst den komplizierten Prozess nicht so recht durchschauen kann, mit dessen Resultaten er dennoch leben muss und für den sich aus Gründen der Vereinfachung die Kurzformel vom »freien Willen« eingebürgert hat. Vielleicht wirkt sich eine große Übereinstimmung überwältigend aus, vielleicht im Gegenteil eine Differenz. Vielleicht erscheinen aufgrund einer Kindheitserfahrung die Gesichtszüge des Anderen vertraut, vielleicht haben sie sich bei einer früheren Begegnung nachhaltig eingeprägt. Manch einer ist seinem Traumgesicht nun wirklich begegnet, oder das Bedürfnis nach einem Anderen hat sich dermaßen angestaut, dass die nächste Gelegenheit auch schon die beste ist. Fehlen zwingende Gründe, genügen zufällige, um es »nur mal zu versuchen« und dann zu sehen, was daraus wird. Was Menschen nicht lassen können, müssen sie tun, und sei es nur, um es dann doch zu lassen.
Sollte schließlich ein realer Anderer vor Augen stehen, und vielleicht mehr als nur einer: Sollen dann romantische Gefühle oder pragmatische Überlegungen den Ausschlag geben? Was ist der wahre Weg zum Glück, und zu welchem? Was macht am meisten Sinn, und auf welchen Ebenen? Ovid hielt es für entscheidend, sagen zu können: »Du allein gefällst mir« ( tu mihi sola places , Ars amatoria , I, 42). Dem folgt die Idee der romantischen Liebe, die dem Gefühl allein vertraut, hingegen elterlichen Rat und irgendwelche Pflichten, pragmatische und ökonomische Überlegungen zum Alltag der Beziehung außer Acht lässt, die dennoch von Bedeutung sind: Wer sorgt für die Rahmenbedingungen des Lebens? Wie lassen sich all die kleinen und kleinlichen Dinge regeln, die mit Liebe wenig, mit derOrganisation des Alltags viel zu tun haben? Gibt es Grund zu der Annahme, mit dem Anderen auch schwierige Situationen durchstehen zu können? Welche Ebenen des Lebens und der Liebe lassen sich mit ihm erkunden? Kann das künftige Zusammenleben im Praxistest, beispielsweise auf einer längeren Reise, erprobt werden? Denn nur praktisch, nicht theoretisch, kann die Alltagstauglichkeit der Beziehung über Momente der Leidenschaft hinaus in Erfahrung gebracht werden; nur in der »Interaktion« können zwei herausfinden, ob sie konvergieren , sich also einander anhaltend zuwenden und zuneigen können, oder ob sie divergieren , was früher oder später zur Abwendung und Abneigung führen muss. Ist wenigstens ein Interesse bei beiden erkennbar, ihre Ichs passfähig zu machen, wenn sie es nicht von selbst schon sind? Welche Arbeit wäre dazu zu leisten, und von wem? Wird es einen gemeinsamen Kern geben können, und was wird im Verhältnis dazu am
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