Die Liebe atmen lassen
516). Ein Selbst, das für sich selbst da sein kann, ist hierzu am ehesten in der Lage.
Hinzunehmen ist erstens hinsichtlich der Zeit , dass der Andere mir nicht wirklich ständig in beliebigem Umfang zur Verfügung stehen kann; vielmehr hat er auch mal »keine Zeit« oder verlangt mir mehr Zeit ab, als ich selbst bedenkenlos geben kann; vor allem aber kollidieren immer wieder unsere Zeitwelten miteinander, die unterschiedlichen Vorstellungen, Einteilungen und Handhabungen von Zeit.
Hinzunehmen ist zweitens, dass der Andere nicht immer alle Aufmerksamkeit mir zuwenden kann, so wenig wie ich selbst ihm unentwegt Aufmerksamkeit zu schenken vermag; vielmehr beschäftigt sich der Andere, wie ich, auch mit Anderen und Anderem, wenngleich dies stets von Neuem den Verdacht erregt, so werde es für immer bleiben.
Hinzunehmen ist drittens, dass die Bewunderung durch den Anderen nicht immer dem Vollmaß entsprechen kann, das mir naturgemäß angebracht erscheint, aber zu einer Überschätzung meiner selbst führt: Früher oder später kommen ja doch auch weniger bewundernswerte Seiten ans Licht, und wenn dann die Bewunderung längere Zeit ausbleiben sollte, liegt es an mir, von Neuem Anlass zu ihr zu geben.
Hinzunehmen ist viertens beim Vertrauen , dass es auch enttäuscht werden kann und dass dies nicht immer nur ein Problem des Anderen ist, der sich des Vertrauens nicht würdig erweist, sondern zuweilen auch ein Problem meinerübermenschlichen Erwartungen, die auf ein menschliches Maß zu reduzieren wären.
Hinzunehmen ist fünftens der gelegentliche Entzug von Privilegien , der zur Folge hat, nicht immer und überall Zugang zum Anderen zu haben oder sogar Abweisung zu erfahren, körperlich, seelisch, geistig. Vielleicht ist der Andere überhaupt ein abweisender Mensch oder ist dazu geworden, schützt sich womöglich mit abweisender Mimik und Gestik gegen die mitreißende Macht seiner eigenen Hingabefähigkeit, von der er zerrüttet würde, gäbe er ihr nach.
Hinzunehmen ist sechstens, dass das Wohlwollen des Anderen, das ich kaum entbehren kann, zumindest phasenweise aussetzt; dass er mich mangelnde Wertschätzung spüren lässt und sich nicht mehr wohlgesonnen und liebenswürdig, sondern verdrießlich und gar biestig zeigt, von mir vorschnell zum Anlass genommen, ihm meinerseits unwirsch zu begegnen – aber vielleicht habe ich den großen Freiraum, den er mir gewährt hat, missbraucht, sodass es darauf ankäme, mit deutlichem Entgegenkommen sein Wohlwollen »zurückzuerobern«.
Hinzunehmen ist siebtens, dass das Wohlgefühl im Zusammensein nicht ständig genossen werden kann, sondern immer wieder mal pausiert und mit Zeiten des Unwohlseins, der Unlust, der Langeweile alterniert, dem Wellengangprinzip des Lebens folgend, das dem auf Dauer gestellten Lustprinzip des modernen Menschen widerspricht.
Hinzunehmen ist achtens, dass die Lebensgewissheit die zeitweilige Ungewissheit nicht aufheben kann, dass vielmehr die Angst um den Anderen gelegentlich übermächtig wird, gerade weil er mir so viel bedeutet, und dass aus der kleinsten Unklarheit des Verhältnisses, begründet oder unbegründet,der größte Liebeskummer entstehen kann. Selbst bei intakter Gewissheit muss ich hinnehmen, dass die bloße Tatsache des Zusammenseins andere Möglichkeiten des Lebens ausschließt und auch im gemeinsamen Leben nicht alle Möglichkeiten wirklich werden, die ich mir erträume.
Ebenso wichtig wie die Hingabefähigkeit in der Liebe ist daher die Hinnahmefähigkeit , ebenso problematisch wie der Mangel daran ist auch ihr Übermaß. Hinnahmefähig zu sein heißt, nicht vor jeder Schwierigkeit zu fliehen; eine allzu bereitwillige Hinnahme aber würde darauf hinauslaufen, alles mit sich geschehen zu lassen. Nur mit Erfahrung, Besinnung und dem daraus entstehenden Gespür ist das atmende Maß dazwischen zu finden, immer anhand dieser Fragen: Was ist noch mutige, was schon leichtsinnige Hinnahme? Wo bin ich zu weit gegangen, wo zu früh zurückgeschreckt? Was ist demütig zu akzeptieren, was schlägt in Demütigung um? Was kann ich rechtzeitig sagen und tun, um der Demütigung zu entgehen, die nicht mehr vergeben werden kann, sodass das Leben mit dem Anderen unmöglich wird? Wie kann ich die Wertschätzung für mich, für den Anderen und die des Anderen für mich bewahren oder wieder gewinnen? Wann ist der richtige Zeitpunkt, mir eine Fehlentwicklung einzugestehen und Konsequenzen daraus zu ziehen? Wie viel »Vorschuss« kann ich dem
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