Die Liebe der anderen
ich auf ein Buch über die Ernährung von Kleinkindern und auf eine Küchenmaschine, die so aussieht, als diente sie der Zubereitung von Kindernahrung. Zoé ist die Einzige, mit der ich reden kann, ohne dass sie es nachplappert.
»Weißt du«, sage ich zu ihr, als ich Wasser und Gemüse in die vorgesehenen Kammern gebe, »du hast jetzt eine ganz neue Mama. Sie erinnert sich an gar nichts, aber sie bemüht sich sehr, alles wieder zu lernen. Du darfst es mir nicht übelnehmen, wenn ich mich anfangs etwas ungeschickt anstelle.«
Sie schaut mich mit großen Augen an und lauscht meinen Ausführungen aufmerksam. Man könnte meinen, sie versteht mich. Sie verschlingt den Brei, den ich ihr auf gut Glück zusammengemixt habe, doch dann beginnt sie zu schreien und gestikuliert wild herum. Sie streckt die Hand aus und verschluckt sich vor Wut. Ich verstehe: Sie hat Durst. Als ich ihr unter tausend Entschuldigungen ein kleines Glas Wasser reiche, beruhigt sie sich. Ich muss über uns beide lächeln – die eine kann nicht sprechen und die andere kann sich nicht erinnern. Die brave Zoé ist so gut und schläft auf dem Weg zu Catherines Agentur im Taxi ein. Völlig perplex sehe ich, als wir angekommen sind, dem Taxifahrer zu, wie er im Handumdrehen den Buggy auseinanderklappt, dessen Funktionsweise mir völlig fremd ist.
»Damit kennen Sie sich wohl aus?«
»Reine Routine. Ich habe sechs Kinder, mit Buggys bin ich quasi per du.«
Catherine fällt mir um den Hals und lotst mich zu einer Brasserie. Ich kann nicht mehr. Ich erzähle ihr die ganze Geschichte, alles kreuz und quer: meine Ängste, meine Verlegenheiten im Alltag. Ich verzichte darauf, die nicht weniger quälenden metaphysischen Fragen anzusprechen, die mir seit gestern immer dringlicher zusetzen. Jetzt, da ich mich auf diese Situation eingelassen habe, finde ich es merkwürdigerweise zweitrangig, mein Gedächtnis wiederzuerlangen. Ich frage mich vor allem, warum, aus welchem Grund ich so plötzlich in die totale Amnesie gestürzt bin. Es muss wohl etwas Schwerwiegendes sein. Aber seit dem Aufwachen ist alles so ruhig … Dennoch, ein unbehaglicher Zweifel beschleicht mich immer wieder: Und vor meinem »Einschlafen«, wie war es da?
Catherine lässt mich mein Problem in aller Ruhe darstellen, ohne mich zu unterbrechen. Hin und wieder schüttelt sie den Kopf und sagt: »Meine arme Marie, das ist ja unglaublich.«
Als ich fertig bin, zieht sie eine Augenbraue hoch und gesteht mir, dass sie nun auch begreift, warum ich sie angerufen habe. Plötzlich wirkt sie befangen.
»Ich muss dir etwas sagen. Du weißt wirklich nichts mehr? Du erinnerst dich an gar nichts?«
Ich nicke mit einem bangen Gefühl, und sie stößt einen tiefen Seufzer aus.
»Ich habe deine Tochter noch nie gesehen. Wir haben uns gestritten, oder sehr viel mehr: du hast dich mit mir gestritten. Du hast meine Entschuldigung nicht angenommen und dich seit genau sechzehn Monaten nicht mehr gemeldet. Kurz vor deiner Entbindung hatten wir uns alle zu einem gemeinsamen Abendessen getroffen. Ich fühlte mich nicht wohl, ich nahm dir dein ewiges Glück mit Pablo übel. Du warst so schön, mit all deinen Rundungen. Jetzt habe ich seit sechs Monaten jemanden, aber damals war ich allein mit meinem Sohn und verbittert. Zu Beginn des Abends hatteich viel getrunken, ohne vorher etwas zu essen. In meinem Suff wurde ich dann unerträglich. Ich habe Pablo ganz offen und vor deinen Augen angemacht. Ich war schlank, sehr sexy angezogen. Du warst im neunten Monat, am Ende deiner Kräfte, du konntest nicht mehr tanzen. Er war nett. Er wusste, dass es mir schlechtging. Da war überhaupt nichts Zweideutiges an seinem Verhalten. Er liebt dich so sehr. Aber als du zu uns in die Küche kamst, habe ich ihn einfach umschlungen und geküsst. Bis er sich wieder befreit hatte, war das Unglück längst geschehen. Du hast mich kühl aufgefordert zu gehen. Heute finde ich mein Verhalten von damals völlig inakzeptabel. An den Tagen darauf hast du einfach aufgelegt, wenn ich dich angerufen habe. Meine Briefe und Blumen und alles, was ich anstellte, um mich zu entschuldigen, hast du zurückgewiesen. Mit nur einem Satz: ›Du hast das Einzige berührt, was du nicht berühren durftest, das Einzige getan, was ich nicht entschuldigen kann – du hast meine Liebe berührt.‹ Also verabschiedete ich mich von der einzigen Freundin, die ich aus Studienzeiten noch hatte. Ich habe sehr darunter gelitten, auch wenn ich mich mit den Wochen und
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