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Die Liebe der anderen

Die Liebe der anderen

Titel: Die Liebe der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederique Deghelt
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ängstlich, fühle mich einer Bedrohung ausgesetzt, von der ich nichts weiß, außer dass sie weh tut. Ich fühle mich schuldig, einfach so abgehauen zu sein, ohne Koffer und ohne Adieu, ich bin auf hinterlistige Weise verschwunden, ohne fortzugehen, habe nur die äußere Hülle zurückgelassen. War es zu schwierig, voll und ganz zu gehen? Wovor wollte ich fliehen?

    »Es ist nicht meine Aufgabe zu verstehen, was Sie erzählen, sondern das herauszuhören, was Sie nicht sagen, weil Sie es nicht ausdrücken können oder vor sich selbst verbergen. Sie fragen mich: ›Warum habe ich vergessen?‹ Das können nur Sie selbst beantworten, wenn es so weit ist. Im Augenblick sollten Sie sich darüber Gedanken machen, was Ihre Amnesie verursacht haben könnte. Was beschäftigt Sie heute im wachen Zustand? Was lehnen Sie an Ihrem früheren Leben ab? Was passt nicht zu Ihren Vorstellungen? Was glauben Sie von sich selbst verloren zu haben aus der Zeit, in die Sie meinen, zurückgekehrt zu sein? Vielleicht ein wichtiges Projekt, das einen radikalen Bruch verursachte? Denn dass es ein ziemlich radikaler Bruch ist, denken Sie doch auch?«
    »Ja.«
    »Wenn wir gemeinsam daran arbeiten, kann ich Ihnen helfen, wieder zu sich selbst zu finden. Dafür muss ich Ihnen das, was Sie mir sagen, in der richtigen Form zurückgeben, nämlich in der Form, in der Sie es nicht sagen. Können Sie mir folgen?«
    »Ich glaube, ja.«
    »In der Person, als die Sie heute auftreten und reden, lebt auch die Marie weiter, die Sie auslöschen wollten, und auch sie redet. Sie ist auf Eis gelegt, doch sie existiert. Ich kann Ihnen nicht sagen, was passieren wird und was Sie mit diesen beiden Ichs tun werden, die sich voneinander trennen mussten. Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass sie beide in Ihnen sind, dass Sie beide sind, und jede kommt in der anderen zum Ausdruck. Das kann ich nicht zuletzt deswegen beurteilen, weil ich Sie seit zwölf Jahren kenne und Ihre Entwicklung aus der Nähe beobachten konnte.«
    »Raphaël, können Sie mir etwas aus meinem Leben erzählen, Momente, die Sie miterlebt haben? Momente, die etwas mit meinem Gedächtnisverlust zu tun haben könnten?«
    »Kein einzelner Moment könnte eine so starke Reaktion hervorrufen. Wenn Sie sich zur Arbeit an sich entschließen sollten, werden wir bei der Marie beginnen, die Sie jetzt sind. Sie ist diejenige, die nach und nach die Dinge wiederentdecken wird, je nachdem, was gerade geht. Worum Sie mich da bitten, das können Ihnen andere geben. Vermutlich wird es Ihnen auf Ihrem Weg helfen. Aber Sie können nicht von mir verlangen, dass ich Ihnen sage, wer Sie waren. Das ist in diesem Rahmen hier unmöglich. Das wäre nicht nur äußerst hinderlich, es wäre sogar gefährlich für das, was Sie vorhaben. Marie, im Augenblick ist es weniger wichtig, dass Sie Ihre Erinnerungen wiederfinden als dass Sie herausfinden, warum Sie sich tief in Ihrem Innern wünschten, eine andere zu sein. Warum mussten Sie sich erst verlieren, um sich wiederzufinden? Denn das ist keine Kleinigkeit … Es betrifft auch Ihre Familie, Ihren Mann.«
    »Muss ich mit Pablo reden?«
    »Marie, darauf gebe ich Ihnen dieselbe Antwort wie vorhin: Warum haben Sie es noch nicht getan? Was hält Sie davon ab?«
    »Ich weiß es nicht. Ich habe Angst, ihm mein wahres Gesichtzu zeigen. Ich bin nicht die Frau, die seit zwölf Jahren mit ihm zusammenlebt. Ich bin eine Frau, die sich gerade erst verliebt hat.«
    »Was doch ein guter Anfang ist, oder? Leben Sie das, wenn Sie sich nun einmal dazu entschlossen haben, und lassen Sie den Rest auf sich zukommen.«
    »Aber … ich habe mich nicht entschlossen …«
    »Oh doch, allerdings.«

    »Hallo, Marie? Hier ist Juliette. Geht’s dir gut?«
    »Sehr gut, und dir? Was gibt’s Neues?«
    Mit dieser Masche bringe ich meine Gesprächspartner zum Reden, wenn ich sicher bin, sie nicht zu kennen. Dann kann ich Informationen sammeln und mir Notizen in mein Heft machen. Vor allem kann ich in der so gewonnenen Zeit den Grad unserer Vertrautheit ermessen. Es ist verrückt, wie viel ich schon durch die Stimme und den Ton erfahre und empfinde. Zum ersten Mal in meinem Leben höre ich richtig. Oder besser gesagt, ich nehme viel mehr wahr als früher. Nach einem kurzen Telefongespräch kann ich schon sagen, ob mir jemand nahesteht oder nicht, ob er wohlwollend ist oder neidisch. Das hat nichts mit Sympathie zu tun, es läuft viel unterschwelliger. Nichts über die Menschen zu wissen, die mich anrufen,

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