Die Liebe der anderen
während sie meinen, mich bestens zu kennen, ist ein wunderbarer Trumpf. Ich weiß sofort, ob sie aufrichtig sind oder nicht.
Juliette steht mir nah. Sie ist mir sehr vertraut und liebt mich. Das spüre ich schon an ihrer Art, sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Sie erzählt mir von den Problemen mit ihrem Liebsten, den Schulsorgen ihres Sohnes und von ihrem Job. Aber nicht wie jemand, der hemmungslos sein Leben ausschüttet, um Ballast abzuladen. Sie offenbart sich nur schüchtern, fast verschämt.
»Und du, hast du gar nichts zu erzählen? Schläfst du wieder besser?«
Ach, ich hatte Schlafstörungen? Interessant. »Ich schlafe hervorragend.«
»Dann hat meine Massage also geholfen.«
Offenbar ist Juliette eine Art Kinesiologin. Sie hat von einer Praxis gesprochen, von einer jungen Frau, die Shiatsu beherrscht und seit kurzem ihre Assistentin ist, von einer Tagung über innere Blockaden. Ich unterbreche sie.
»Juliette, wie lange kennen wir uns jetzt?« Ich habe es inzwischen drauf, so ganz nebenbei unauffällige Fragen zu stellen. Fragen, deren Antwort ich eigentlich wissen müsste und mir so von meinem Gegenüber beantworten lasse.
»Ich glaube, fast zehn Jahre. Warum fragst du?«
»Weil ich … nun, sagen wir, ich stelle mir im Moment viele Fragen. Das klingt bestimmt seltsam, aber ich versuche mich in meinem Leben, in meiner Partnerschaft neu zu orientieren, und dafür brauche ich die Hilfe von Leuten, die uns gut kennen. Ich möchte die andere Version hören: Was sehen die anderen, wie nehmen sie uns wahr. Würdest du mit mir darüber reden? Können wir uns treffen?«
»Sieh mal einer an … Ausgerechnet du! Klar, wenn es dir wichtig ist, gerne. Ich könnte nachher auf einen Kaffee reinschauen, wenn du magst. Bei mir sind zwei Termine abgesagt worden. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich dir vor nicht allzu langer Zeit geraten habe, mal Bilanz zu ziehen und etwas Abstand zu nehmen, und du hast mir geantwortet, das sei dir völlig schnuppe! Aber an deiner Stimme höre ich, dass es ziemlich dringend ist.« Ich versuche sie zu beruhigen. Nur eine kleine Routineuntersuchung.
Sie lacht, ihr kann man nichts vormachen. »Verstehe, dann also bis später, Marie. Dein Code hat sich doch nicht geändert?«
»Nein.« Ich lege auf. Na bitte, geht doch. Es ist gar nicht so schwer, seinen Freunden Fragen zu stellen, ohne ihren Argwohn zu wecken.
Die Zeit, die mir bis zu Juliettes Besuch bleibt, verbringeich damit, Fototaschen zu sortieren. In einer Kommode hatte ich Briefumschläge mit Negativen und Abzügen gefunden, die es nicht in ein Album schafften. Ich sehe mir die jüngsten Bilder an. Wie immer scheine ich die Fotografin zu sein, denn ich bin nur auf wenigen Aufnahmen zu sehen. Ein Umschlag ist gerade erst einen Monat alt, eine Feier in einem Haus, das ich nicht kenne. Wahrscheinlich auf dem Land. Leute beim Grillen. Ich kenne niemanden davon. Pablo hat den Arm um die Schulter einer jungen Frau gelegt, die mir auf Anhieb sympathisch ist. Sie hat üppiges braunes Haar und Augen von einem strahlenden Blau, ein Charakterkopf. Auf einem anderen Bild sieht man mich mit ihr vor einer Geburtstagstorte, die offensichtlich für sie ist, denn sie ist drauf und dran, die Kerzen auszublasen.
Ein anderes Foto zieht meine Aufmerksamkeit auf sich: Darauf bin ich alleine und schaue mit unendlich trauriger Miene zur Seite. So kenne ich mich nicht. Ich sehe gealtert aus, verlassen, fast gebeugt … Dieses Bild stürzt mich in große Verwirrung. Wer könnte mich in einem solchen Moment aufgenommen haben? Wer kennt einen so verletzlichen Teil von mir? Ich denke an Pablo, doch instinktiv weiß ich, dass er es nicht war. Es gibt kein Foto, auf dem wir beide zu sehen sind. Doch das wundert mich nicht wirklich: Wenn man einen Fotoapparat miteinander teilt, teilt man sich nur selten das Bild.
Es klingelt. Ich verstaue die Fotos schnell wieder in der Schachtel, bevor ich die Tür öffne. Und dann muss ich schmunzeln: Vor mir steht die Frau mit der Geburtstagstorte. Sie fällt mir um den Hals und drückt mir zwei Schmatzer auf die Wangen. Das »Juliette!«, das ich ausstoßen wollte, schlucke ich mit einem letzten Zweifel hinunter. Und wenn sie es gar nicht ist? Doch dann verscheucht sie meine Bedenken, ohne es zu wissen:
»Na, du Forscherin, alles klar? Wie du siehst, habe ich mich beeilt!«
Als sie ihren Mantel über einen der Stühle legt, bleibt ihr Blick auf dem Tisch hängen. Das Foto, auf dem ich so traurig
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