Die Liebe der anderen
Schuldgefühle, mir geht es gut, ich lebe nur den Augenblick. Ich schmiege mich an François, wir vergessen den Weg zu mir und gehen zu ihm.
»War ich schon einmal bei dir?« Ich stelle die Frage, als wäre François auf dem Laufenden, dass ich das Gedächtnis verloren habe. Ich hatte einfach Lust dazu, nur um zu sehen, wie er reagiert.
Er lacht. »Nicht, dass ich wüsste. Jedenfalls nicht mit mir.«
Alles geht durch. Meine Frage ist ihm nicht einmal seltsam vorgekommen. Er betritt die Wohnung, ohne Licht zu machen. Man hört Musik spielen, und in einer Zimmerecke leuchtet ein Nachtlicht.
»Ich mag es, wenn ich spät nach Hause komme und das Gefühl habe, jemand würde auf mich warten«, erklärt er mir. Seine Umarmungen fühlen sich merkwürdig vertraut an. Augenblicklich stellt sich eine wunderbare Intimität ein. Ganz harmonisch. Ohne viele Worte. Unsere Gesten knüpfen eine intensive Liebesgeschichte. Wo auch immer unsere Hände, Münder oder Blicke sich befinden, kein Missklang, eine angenehme Reise in die Welt der Sinne. Ich bin überrascht über die Kraft seines Begehrens … meines Begehrens … Plötzlich bricht die Gegenwart hervor … Ich bin nicht mehr eingesperrt. Ich
bin
zum ersten Mal. Ich habe keine Vergangenheit,keine Erinnerungen, muss keine falschen Schritte aufspüren. Ich muss nur leben. Ich stöhne, schreie, nehme, gebe. Hin und wieder nimmt François meine Hände und mischt ein »Ich wusste es« unter meine Küsse. Ich frage ihn nicht, was er wusste, ich weiß es selbst.
Als wir durch die Straßen gingen, hätte ich ihm meine Geschichte fast erzählt. Doch nun, wo ich in seinen Armen liege, habe ich keine Lust mehr dazu. Ich bin einfach nur eine junge Frau, die sich verführen lässt. Ein Teil von mir entsinnt sich, leitet mich. Wenn dieser Teil nicht existieren würde, wäre ich jetzt nicht bei ihm, nackt, zerzaust, wild, verliebt, gierig, willig. Und das ist die Realität.
Ich schleiche mich davon aus einem Schlaf, in den ich ihm nicht gefolgt bin, eine Parallelwelt der Liebenden einer Nacht. Rhythmus, Takt, Melodie, Harmonie, Mond, Wolke, ich liebe dich, ich liebe dich … Wen liebe ich?
Als ich allein zu Hause bin, sinke auch ich in den Schlaf. Ich träume. Wieder und wieder werde ich genommen. Seine Hände sind überall, mein Begehren ist immer noch heftig, aber anders. Wir wälzen uns, unsere Hände krallen sich ineinander. Ich habe die Augen geschlossen. Der Traum ist wunderbar. Der Liebesakt dauert Jahre. Über Wochen werde ich genommen, kann nicht genug davon kriegen. Ineinander verschlungene Lebensschleifen … Ich spüre Pablos Bart an meiner Wange, seine Stimme flüstert mir sinnliche Worte ins Ohr … andere Worte … immer neue … Worte, die mich lieben … nie dieselben.
Ich schlage die Augen auf. Pablo lacht.
»Was hast du geträumt? Du schienst ziemlich erregt. Es war … sehr sexy.«
Er ist zurück. Es ist zehn Uhr. Ich habe Lust zu reden, Lust, ihm alles zu sagen … Nein. Dieser Moment ist einfach zu schön. Leben wir den Moment! Die Sonne ist herrlich, das Frühstück verlockend.
Wo ist der Unterschied zwischen der Erinnerung an meinAbenteuer und dem nur erträumten Abenteuer, an das ich mich jedoch erinnere, als wäre es real? Vielleicht gibt es gar keinen, und man muss den Augenblick leben, damit man nicht nur Gewohnheiten und Erinnerungen anhäuft? Aber dann frage ich mich natürlich, was ich bloß angestellt habe, dass mein früheres Leben verschwunden ist! Habe ich den Moment tatsächlich ausgelebt, oder wollte ich mich dafür bestrafen, nur dahinvegetiert zu haben, ohne wirklich zu genießen?
Pablo ist da, mit seinem offenen Lächeln. Er sieht zwölf Jahre jünger aus. Das wäre mir nur recht. Wo ist der Riss?
Mein Handy klingelt. Auf dem Display leuchtet die Nummer von François auf. Ich habe sie gestern Abend gespeichert, als wir auf dem Weg zu ihm waren. Ich drücke ihn weg.
Pablo wundert sich. »Gehst du nicht ran?«
»Nein. Ich habe gerade keine Lust zu reden.«
»Und wozu hast du Lust?«
»Ich möchte mit dir zusammen sein. Den ganzen Tag. An den Kais entlangspazieren, in ein Bistro gehen, um ein bisschen Käse zu knabbern. Wein trinken, Bordeaux oder Graves. Weiter schlendern … Mit dem Schiff fahren, reden. Vielleicht. Ins Theater gehen, ins Schwimmbad, in den Wald, an den Strand. Zärtlichkeit. Spaß. Teilen. Essen, dich aufessen. Noch mehr trinken … Und mich daran erinnern!«
»An einem einzigen Tag? Da haben wir aber ganz schön was
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