Die Liebe der anderen
Hunger?«
»Ich komme schon.«
»Du siehst traurig aus.«
»Nein, ich träume nur. Irgendwie werde ich einfach nicht wach.«
Das ist der kleine Blues nach dem Sex. Das Gefühl der Leere. Ja, genau das ist es. Das hattest du schon vor zwölf Jahren, erinnerst du dich? Ein kleiner Blues nach zu vielen Sinneseindrücken. Kein Grund, sich zu erschießen. Ich führe Selbstgespräche, ich werde verrückt. Ich habe es so satt. Und ich habe Hunger.
Ich betrete das Esszimmer und verkünde: »Man soll nicht mit leerem Magen denken.«
»Und das aus deinem Munde! Ich dachte, du könntest den Spruch nicht ausstehen?«
»Ach ja?« Was soll ich ihm sagen, ich finde den Spruch gar nicht so schlimm, außerdem ist er wahr.
Mein Handy klingelt wieder. François. Ich würge es ab.
»Gehst du immer noch nicht ran?«
»Nein, nicht wenn ich Hunger habe. Außerdem sind wir beide nicht so oft für uns allein.«
Pablo hebt die Augenbraue. »Ein Liebhaber?«
»Ja, ich weiß aber nicht mehr welcher, deshalb gehe ich lieber kein Risiko ein.«
Er lacht! Es macht mich immer trauriger, dass das Lügen mir so leicht fällt. Dabei war ich immer die Erste, die Heuchler an den Pranger stellte. Und schon suche ich nach Entschuldigungen: Ja, aber ich befinde mich ja auch in einer besonderen Lage. Und die eigenen Gründe sind immer die besten! Sieh mal einer an, ich habe die guten alten Grundsätze meiner geliebten Großmutter nicht vergessen. Seltsamerweise habe ich sogar den Eindruck, mein Gedächtnis, also mein »altes« Gedächtnis, funktioniert besser denn je.Was für eine Ironie! Aber auch was für eine perfide Logik, denn es ist mir wieder viel näher gerückt. Ach, hätten wir bloß nicht das Jahr 2000!
Ich schlage vor, einen Spaziergang an der Seine zu machen. Der Plan begeistert mich geradezu. Ich mag die Begebenheiten unseres Lebens vergessen haben, doch mir wird auf einmal der Unterschied zu den Stunden bei François klar, in denen nur die Kraft des Augenblicks zu zählen schien: Das Gefühl von Zusammengehörigkeit. Ich spüre, dass Pablo mich beobachtet.
»Ich muss dir was sagen …«
»Ja, was gibt’s denn?« Ich gebe mich bewusst oberflächlich und zerstreut. Ich überhöre seinen ernsten Ton. Die Strategie geht auf. Er zögert. Ich hake nach.
»Ja?«
»Nein, nichts … Bist du so weit?«
»Ja.« Ich küsse ihn.
»Jean-Marc?«
Wir umarmen uns. Ich bin bestürzt, wie sehr er sich verändert hat. Sein Gesicht ist wie eingefallen in den Furchen der Traurigkeit.
»Marie, schön, dich zu sehen! Nachdem ich deine Adresse verloren hatte und mich nicht mehr an deinen neuen Namen erinnern konnte, habe ich gehofft, dass das Schicksal es gut mit uns meint und wir uns zufällig begegnen.« Er begrüßt Pablo ebenfalls sehr feierlich. »Ich weiß nicht einmal mehr, wie diese beschissene Firma heißt, in der du vor, na, sagen wir zwölf Jahren angefangen hast. Ja ja, wie die Zeit vergeht! Stimmt’s, meine Liebe? Aber an die Party an dem Abend kann ich mich noch gut erinnern. Wir haben so viel gesungen, dass ich danach eine Woche lang heiser war! Dich brauche ich ja wohl nicht zu fragen, ob du dich noch daran erinnerst.« Er sieht Pablo lachend an.
Ich fühle mich irgendwie unwohl. Ich weiß, dass meineberüchtigte »Kennenlern-Party« vor zwölf Jahren stattgefunden hat. Aber es ist das erste Mal, dass ein anderer in meinem Beisein darüber spricht.
»Sag mal, bist du immer noch bei dieser Firma?«
»Nein, ich habe vor kurzem dort aufgehört. Und du?«
»Wie du siehst, bin ich aus Japan zurückgekehrt … vor zwei Monaten. Yumi ist dortgeblieben mit ihrem Größenwahn … Wir sind noch nicht so weit, wieder miteinander zu reden. Aber das ist eine andere Geschichte. Ihr hingegen seid richtig erblüht vor lauter Liebe. Wie viele Rabauken habt ihr denn inzwischen?«
»Drei, wir haben drei Kinder.«
»Oh, nicht schlecht! Ihr habt euch ja rangehalten, was? Wollen wir etwas trinken gehen?«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin bestürzt über die physische Veränderung meines lieben Freundes von früher. Jean-Marcs Niedergeschlagenheit ist so offensichtlich, dass mir die Freude darüber, endlich jemanden zu treffen, den ich wiedererkenne, auf den Schlag vergangen ist.
Da ich schweige, geht das Gespräch ohne mich weiter. Pablo erzählt, was er beruflich macht, und Jean-Marc berichtet von den Japanern, die französische Chansons lieben und das Repertoire von Fréhel auswendig können, während die Franzosen es ganz
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