Die Liebe der anderen
offenbar verdrängt haben. Ab und zu attackiert er Yumi und den Rest des weiblichen Geschlechts gleich mit. Zweifelsohne liebt er sie noch und leidet umso mehr. Ich wage mich vor.
»Wie lange haben wir uns nicht gesehen, Jean-Marc?«
»Fünf Jahre, Süße. Seit deinem kurzen Japantrip.«
Aha, ich war also dort? Ich hätte besser den Mund gehalten.
»Und du, seit wann warst du nicht mehr hier?«
»Ha, der war gut! Willst du Salz in die Wunde streuen, oder was? Ich bin nur ein einziges Mal zurückgekommen, damals, wegen der Probleme mit meinen Papieren. Für vierTage, glaube ich. Zu der Zeit war das ohne Yumi wie Atemstillstand. Ich bin in euren Ferien hier gewesen, irgendwie so was. Jedenfalls wart ihr nicht da. Das muss man sich mal vorstellen, all diese Zeit auf einem anderen Planeten für nichts!«
Für diese Worte konnte er kein besseres Gegenüber finden. Ich sehe ihn prüfend an. Sich nicht an das eigene Älterwerden zu erinnern, ist eine Sache. Aber mit fünffacher Geschwindigkeit zu altern, ist genauso unglaublich. Er ist so lieb zu mir wie immer, wie früher. Der gute Jean-Marc. Er war im Übrigen der Erste, der an jenem Abend bemerkte, wie sehr ich mich in Pablo verguckt hatte. Und auch der Erste, der ihn einlud, sich an unseren Tisch zu setzen und mit uns zu feiern. Pablo scheint ihn sehr zu mögen. Zwei Stunden später trennen wir uns unter großen Freundschaftsbekundungen von ihm. Und wir versichern ihm wiederholt, dass wir uns freuen würden, wenn er wie früher einfach mit seiner Gitarre bei uns vorbeikäme.
Pablo wirkt verstört. »Findest du nicht, dass er furchtbar alt geworden ist?«
Was die verflossene Zeit betrifft, geht es uns dieses eine Mal gleich.
»Ja, ich bin richtig schockiert … Dieser riesige Schmerz, den er mit sich herumträgt.«
»Was für ein Glück, dass wir uns begegnet sind, auch wenn es manchmal nicht einfach war …« Er geht nicht weiter ins Detail, sondern nimmt mich in den Arm, ich bin angespannt.
Ich habe das Gefühl, vor einem Abgrund zu stehen, in dem sich die Zeit ungehindert ausdehnt, hinter einer verschwommenen Grenzlinie, die mich von diesem Mann trennt. Da sehe ich einen Freund vor mir, berauscht von der Hoffnung auf Liebe, in Erwartung einer verwandten Seele, und dann treffe ich ihn kaum einen Monat später wieder, vernichtet von genau diesem Glück.
Angstgefühle brauen sich in mir zusammen.
Wir sind in der Nähe des Pont-Neuf und der Place Dauphine, der Himmel ist grau, und ich weiß nicht, warum, aber es beruhigt mich ungemein, dass wir uns den Arkaden nähern. Ich halte es im Geiste fest, damit ich es mir später notieren kann.
»Sag mal, Pablo, in welchen Momenten hast du mich eigentlich schreiben sehen, seit wir zusammen sind?«
»Komische Frage! Lass mich mal überlegen … Als ich dich kennenlernte, sagtest du, schreiben wäre nicht dein Ding. Ich hatte den Eindruck, du würdest es bedauern, damals jedenfalls. Als wäre es ein uneingestandener Traum. Und dann hat es wohl eine Eigendynamik bekommen – an dem Tag im letzten Jahr, als du dich entschieden hattest, ein Theaterstück zu schreiben und in unser Häuschen gefahren bist, um ein paar Tage für dich zu haben … Als ich später nachkam, gab es dieses berühmte Heft, das ich nicht lesen durfte. Ich war ziemlich beleidigt. Jetzt kann ich es dir ja sagen: Eines Nachts, als du schliefst, bin ich aufgestanden und wollte lesen, was du geschrieben hattest. Eine Schnapsidee, sag einfach nichts … Ich wollte herausfinden, was dich beschäftigte, wo ich in dem Ganzen vorkam, ob du mich liebtest, ob unsere Beziehung in Gefahr war … Irgend so eine Alibibegründung hatte ich mir zurechtgelegt.«
Ich muss einen entsetzten Eindruck machen, denn er fügt hinzu: »Ich weiß. Wir haben uns geschworen, nie wieder darüber zu reden. Übrigens bewundere ich dich dafür. Am Anfang dachte ich mir, was für eine verdammt talentierte Schauspielerin! Aber je mehr ich dich beobachtet habe, desto klarer ist mir geworden, dass du nicht spielst. Deine Begabung zum Glück ist beeindruckend. Und ansteckend, ich fühle mich wunderbar mit dir.«
Schon bei den ersten Worten von Pablo hat sich mir der Magen zusammengezogen. Zu wissen, dass es irgendwo ein Heft gibt, in das ich mir schon vor einem Jahr Notizenmachte … Und dieses Häuschen, von dem ich nichts weiß. Vor allem aber seine Bemerkungen über das Vergessen, dieses »nie wieder drüber reden«. Ich rede mich heraus, schaffe es, etwas zu sagen, das sich auf
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