Die Liebe der anderen
vor! Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gern noch ein Stündchen schlafen, bevor wir dein Marathonprogramm starten.«
Er hat recht, er ist schön, er reißt mich mit, ich bin so müde. Immer noch plagt mich das Begehren. Er ist schön, ich flüstere es mir immer wieder zu. Ich glaube, ich liebe ihn, aber ich traue mich nicht, es ihm zu sagen. Warum eigentlich nicht? Das Leben besteht doch aus lauter Ungewissheiten. Man glaubt felsenfest an etwas und baut alles darauf auf …Ein beruhigendes Stückchen Gewissheit … Ich muss das Bild von François vertreiben, von seinen Armen, die mich gestern Abend umfingen.
Mir kommt der Gedanke, ein Tagebuch anzulegen. Einen Teil von mir auf Papier zu bannen, wegzuschließen und zu beschützen. Ich habe das Bedürfnis, all diese Geschichten irgendwo loszuwerden. Ich weiß auch nicht, wozu das gut sein soll, aber falls ich wieder einmal alles vergesse … Scheußliche Angewohnheit, sich von einer Sekunde auf die andere mit der näheren Zukunft zu terrorisieren, so ganz ohne Vorwarnung. Und wenn ich es noch mal tun würde? Kurz am Jahreszähler drehen und hopp, geht’s zurück auf Los. So absurd diese Vorstellung mir auch erscheinen mag, ganz von der Hand weisen kann ich sie nicht: Unterm Strich weiß ich überhaupt nichts über Amnesie! Aus Angst, als Versuchskaninchen zu enden, wollte ich auch nicht mehr darüber erfahren. Was ich habe, ähnelt dem Wahnsinn. Wie behandelt man so etwas? Das finde ich lieber selber heraus. Die Idee mit dem Tagebuch halte ich jedenfalls für sehr gut. Wenn ich mich mal wieder in meinem eigenen Seelenleben verirre, kann ich mich wenigstens in meinen Notizen wiederfinden. Und wenn … wenn … Auf einmal bin ich ganz aufgeregt bei dem Gedanken.
Und wenn ich es bereits getan hätte …?
Aber nein, das ist idiotisch. Ich hätte es doch längst aufgestöbert. Beim Durchforsten meiner Sachen wäre ich doch längst darüber gestolpert. Es ist jetzt schon einen Monat her, dass ich zurückgekehrt bin. Und kein Tag vergeht, ohne dass ich einen neuen Ausdruck erfinde, um das Verschwinden meiner Erinnerungen zu beschreiben. Ich habe ein paar alte Gedichte von mir entdeckt. Ob sich meine Schrift verändert hat? Das müsste ich mal überprüfen … Denn zwischen fünfundzwanzig und siebenunddreißig … Habe ich Pablo geschrieben? Wo sind meine Briefe? Bestimmt in seinem Schreibtisch. Alles geht durcheinander, ich gehe unter.
Essensduft holt mich aus meiner Erstarrung zurück, und hier und da ein paar Gesprächsfetzen. Ein Kopf erscheint im Türspalt.
»Querida? Bist du wach? Na, sag mal, das war ja ein ausgedehntes Nickerchen! Es ist halb drei. Ich fürchte, das wird deine Pläne begrenzen. Hast du Hunger? Donato war hier. Ich habe ihn für nächste Woche zum Essen eingeladen, ist doch in Ordnung, oder?«
Auf den ersten Blick ja, ich habe keinen Schimmer, wer Donato ist. »Ich ziehe mir nur eine Jeans über, dann komme ich. Es riecht gut, ich habe Hunger. Hunger!«
Pablo grinst mich an und verlässt das Zimmer. Sobald er fort ist, fühle ich mich leer, traurig, hilflos. Deprimiert. Ich weiß nicht mehr weiter. Es verlangt mir schon genug ab, die zu sein, die ich geworden bin: eine Ehefrau, eine Mutter, und nun lege ich mir auch noch einen Geliebten zu. Ich glaube, ich habe alles verloren, was ich mir in den zwölf Jahren aufbauen konnte. Was ist mir geblieben? Zweifel … Bitterkeit … Beklemmungen … Na ja, ich übertreibe. Ich erlebe ja auch vieles Schöne gerade. Tagtäglich darf ich mich auf eine Überraschung gefasst machen. Ich habe keine Lust zu sterben. Warum denke ich überhaupt daran? Hatte ich früher Lust zu sterben? Das sieht mir nicht ähnlich. Ich entsinne mich, dass ich einmal einen riesigen Wutanfall bekam, als ein verzweifelter Verehrer mir mit Selbstmord drohte. Total pathetisch. Ich öffnete ihm das Fenster – wir befanden uns nur im ersten Stock – holte ihm das schärfste Messer aus der Küche, reichte ihm ein Seil mit Schlinge und zeigte ihm den stabilsten Balken im Haus, Gas hatte ich leider nicht zu bieten, und dann bin ich gegangen. Dieses Spielchen wollte ich nicht mitmachen. Aber es war ja auch nur Bluff. Zurück zu mir: Wollte ich schon mal sterben? Auf Zehenspitzen die Bühne verlassen, ohne jemanden einzuweihen, ganz einfach gehen? Nein, ich glaube nicht. Wieso eigentlich nicht: Immerhin habe ich zwölf Jahre meinesLebens um die Ecke gebracht. In gewissem Sinne bin ich also auch gegangen.
»Ich dachte, du hättest
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