Die Liebe der anderen
genug ist, den Schreibprozess in Gang zu bringen. Ich will so lange warten, bis ich verstehe. Dank Pablo weiß ich nun, dass ich schon geschrieben habe und wo dieser intensive Wunsch herkommt, der mir bislang ein Rätsel war. Es ist so ähnlichwie mit den Zigaretten: Ich hatte noch eine Erinnerung an das Rauchen, aber nicht mehr das Bedürfnis danach. Umgekehrt habe ich den Wunsch zu schreiben, kann mich aber nicht entsinnen, früher schon zu Stift und Papier gegriffen zu haben.
Ich rufe Lucas an. Schließlich ist die Videoaufzeichnung einer Improvisation auch eine Art Notiz. Er will sich darum kümmern, alle einzuladen, die an dem Workshop teilgenommen haben. Ich ahne, dass die Vorführung eine explosive Wirkung haben wird.
Lucas hat alle zusammengetrommelt, die der Szene beigewohnt haben, ein Dutzend Leute haben sich versammelt. Ich bin nervös. Einige werfen mir einen flüchtigen Blick zu, andere schenken mir ein nettes Lächeln. Sie spüren meine Anspannung. Lucas sieht sich das Video im Schnelldurchlauf an, dann spult er den Film zurück an den Anfang. Antoine, den ich im Café kennengelernt habe, setzt sich neben mich. François kommt hereingestürmt. Völlig außer Atem bedeutet Lucas ihm, sich ebenfalls zu mir zu setzen. Seit unserer gemeinsamen Nacht haben wir nicht mehr miteinander gesprochen.
Die improvisierte Szene beginnt mit einem spannungsgeladenen Schweigen. Mit unterdrückter Feindseligkeit tänzeln die Ehepartner umeinander herum. François ergreift das Wort.
»Wo hast du die Nacht verbracht?«
Ich verteidige mich. Erkläre ihm, ich sei durch die Stadt gewandert. Und plötzlich platzt es aus mir heraus: »Ausgerechnet
du
fragst mich, wo ich war? Du hast vielleicht Nerven! Du legst doch auch keine Rechenschaft über deine Abwesenheiten ab, gibst keine Auskunft darüber, wie du deine Zeit verbringst. Ich könnte dich ebenfalls einem solchen Verhör unterziehen. Könnte sein, dass es dir noch viel unangenehmer wäre, meine Fragen zu beantworten.«
Der Streit spitzt sich rasch zu, ich scheine es darauf anzulegen. Aber bin das wirklich ich dort auf dem Bildschirm, diese zerzauste Frau, die sich wie eine Geistesgestörte ihren ganzen Frust und Hass aus der Seele brüllt? Wild durcheinander werfe ich ihm vor, unsere Liebe verraten zu haben, das Gegenteil von dem gelebt zu haben, was wir wollten, jemand anderen geliebt zu haben, ohne es mir zu beichten. Ich werfe ihm Feigheit vor, ziehe die erbarmungslose Bilanz einer traurigen Erfahrung, die vermutlich alle langjährigen Beziehungen ereilt, wenn die Ambitionen der jeweiligen Protagonisten sich mit den Jahren, im Alltag und aus allerlei anderen fadenscheinigen Gründen, abnutzen. François ist erstaunt über diesen Ausbruch. Und in rein dramaturgischer Hinsicht verstärkt meine Überladung seine Betroffenheit. Er ist verwundert, aber ich habe offenbar ins Schwarze getroffen. Er lässt seiner Wut freien Lauf. Heuchelei ist ansteckend. Er lässt sich gehen: Ausflüchte, Vorwürfe, das ganze Programm. Plötzlich habe ich ein echtes Paar mitten in einer Krise vor Augen. Ich wage nicht zu glauben, dass alles, was ich sage, mit einer tatsächlichen Erfahrung, die ich gemacht habe, zu tun hat, doch es ist offenkundig.
Nur mein Gegenüber ist das falsche. Obwohl ich keinerlei Erinnerung habe an diese Szene, an meine damalige Lebenssituation oder an das, was dafür verantwortlich sein könnte, laufen mir Tränen über die Wangen. Die Filmvorführung ruft etwas in mir wach … Das Phantomgedächtnis … Ich kenne die andere immer noch nicht, doch ich weine für sie. Diese verlassene Frau, der die Liebe abhandenkommt, rührt mich. Sie ist älter als ich, und auf eine Art bin ich ihre Erlöserin.
François hat meine Hand genommen, Antoine die andere. Ich spüre auch ein paar Blicke auf mir, und eine sanfte Fürsorglichkeit umgibt mich. Sicher spüren alle, dass das, was an jenem Tag auf der Bühne passierte, einen wahrenKern in meinem Leben hat. Ist das eine Art von Exorzismus? Wurde ich von Pablo verraten? Hat er mich betrogen? War ich wirklich so unglücklich?
Ich werfe Lucas einen hilfesuchenden Blick zu. Als die Szene endet, knie ich verzweifelt am Boden. François lässt sich neben mich sinken, schließt mich in die Arme. Er wiegt mich sanft, versucht mich zu beruhigen. Er sagt, er liebt mich.
Das Licht geht wieder an. Und als würden alle auf eine Erklärung von mir warten, beginne ich zu reden:
»Ich … Ich hatte die Szene nicht mehr in Erinnerung.
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