Die Liebe der anderen
ich mit den Kindern zusammen bin. Sie haben eine wunderbare Art, mir ohne Worte zu sagen, dass ich unentbehrlich bin für sie. An ihrer Seite fühle ich mich richtig … Obwohl ich mir die Sehnsucht, die mich während der Schwangerschaft erfüllt haben muss, nicht vorstellen kann. Was mich verunsichert, ist das Fehlen von Spontaneität zwischen Pablo und mir in unserem Alltag zu Hause. Unsere Beziehung wird oft von den Kindern in den Schatten gestellt. Wenn die Rasselbande mal nicht da ist, wünschte ich, Pablo würde mich packen und hinter jeder Tür küssen. Was das angeht, finde ich ihn ein bisschen passiv. Aber er scheint sich gut zu fühlen. Vielleicht spielt sich das Leben später so ab. Wenn man sich gut kennt und schon lange an einem Ort zusammen wohnt, ist es offenbar kein bemerkenswertes Ereignis mehr, sich zwischen Bad undWohnzimmer über den Weg zu laufen. Dabei ist es das für mich unbedingt, und es fällt mir schwer, es ihn nicht wissen zu lassen. Ich sehe seinen überraschten, lächelnden Blick, wenn ich meine Arme um ihn schlinge oder ihn zurückhalte, wenn er eigentlich nur kurz in die Küche wollte, um etwas zu trinken. Nach vier Wochen der spontanen Anwandlungen versuche ich meine Leidenschaft nun etwas zu zügeln. Es ist anstrengend, nicht in derselben Zeit zu leben. Aber warum soll ich den neuen Blick, den ich zwölf Jahre später auf unsere Partnerschaft werfe, nicht ausnutzen? Ich habe die Chance zu sehen, was er mit Sicherheit nicht mehr sehen kann … Warum also soll ich nicht dementsprechend handeln?
Dass ich mein bedrückendes Geheimnis nicht mit Pablo teilen kann, ist eine schwere Belastung, die ich ganz alleine trage. Besonders am Abend, wenn wir uns in unserem gemeinsamen Bett aneinanderschmiegen, muss ich die Luft anhalten, um ihm nicht alles zu erzählen. Ich konzentriere mich ganz auf das Atmen und lasse meiner Angst vor seiner Reaktion freien Lauf. Zumal ich ja immer noch nicht weiß, warum ich »unser Gedächtnis« verloren habe. Dieser verwirrende Gedanke lässt mich weiterhin schweigen. »Uns« habe ich mit meinem Vergessen beseitigt, »uns«! … Und unser ganzes Leben. Wie würde er es bewerten, wenn ich es ihm erzählte? Und wenn er wüsste, dass mein Vergessen einen bestimmten, mir unbekannten Grund hat, wäre er dann ehrlich genug, es mir zu sagen? All diese »Wenns« schrecken mich ab. Ich habe Angst vor der Wahrheit, aber ich habe auch Angst vor den Folgen des Lügens. Denn ich zweifle nicht daran, dass ich Pablo eines Tages alles erzählen werde … Eines Tages … wenn ich … alles wieder weiß? Vielleicht habe ich dann gar keine Lust mehr dazu, vielleicht ist es dann überhaupt nicht mehr sinnvoll … Sinnvoll wäre, es zu teilen!
Meine Tage sind aufreibend. Immer wieder bekomme ich Lust, mich hinzusetzen und alles aufzuschreiben, um das, was ich durchmache, auf Papier zu bannen. Ich verschanze mich mehr und mehr in meiner Gedankenwelt, und wenn ich schreiben würde, wer weiß … Doch es gibt noch etwas anderes, das meine Schreiblust befördert: Sollte ich mein Gedächtnis nicht wiedererlangen, was nicht auszuschließen ist, würde ich nach zwölfjähriger Absenz dieses Leben so weiterleben. Alles wäre gut, und alles wäre verloren. Ich würde mir neue Erinnerungen zulegen und darüber vergessen, wie intensiv und lebendig der Zeitraum war, in dem ich keine mehr hatte. Die Sünde der Gewohnheit würde mich einholen. Mein Leben als Ehefrau und Mutter würde dahinplätschern, die Jahre würden vergehen, und ich hätte die einmalige Chance versäumt, mein Leben von außen zu betrachten. Ich könnte gewisse Dinge nie mehr nachfühlen oder erleben, etwa das immense Glück, meine Kinder zu entdecken. Jeder Satz, den sie sprechen, jede Handbewegung, die sie ausführen, erfasse ich wie durch ein Mikroskop, das mir irgendwann nicht mehr zur Verfügung stehen wird. Wird es mir gelingen, diese Mischung aus Augenblick und Ewigkeit mit Worten zu beschreiben und erfahrbar zu machen? Ich bin nicht sicher, aber einen Versuch ist es wert. Bisher hatte ich Angst davor. Und immer, wenn ich Angst habe, habe ich keine Zeit. Schreiben birgt die Gefahr, gelesen und entdeckt zu werden. Schreiben bedeutet aber auch die Versuchung, selber wieder zu lesen und sich neu zu entdecken: Keine Ausrede ist zu billig, um den Moment der Distanz aufzuschieben, den ein Text einem abverlangt. Also hüte und hege ich meine Gedanken, meine Sorgen und meine Zweifel. Ich warte auf einen Anstoß, der stark
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