Die Liebe der anderen
Mir war gar nicht alles bewusst, was … was ich da gesehen habe. Es ist sehr … aufwühlend für mich, das als Zuschauerin zu sehen.«
»Wenn es dir in dem Augenblick bewusst gewesen wäre, als es passierte, hättest du es so nicht spielen können. Die Qualität eines Schauspielers zeigt sich darin, ob er in solchen Momenten loslassen kann. Man kann nicht gleichzeitig in sich hineinhorchen und sich beim Spielen zusehen.«
Ich habe fast das Gefühl, dass Lucas versucht, mich zu schützen, indem er die Aufmerksamkeit wieder auf das Spiel lenkt. Vermutlich kennt er die Wahrheit. Besser als ich, die ich nach wie vor unsicher in der Erinnerung meines eigenen Lebens umhertappe. Vielleicht hat er aber auch recht, und diese Szene hat nicht das Geringste mit meinem Leben zu tun. Wir diskutieren noch lange über das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion in der Schauspielerei. Über die Kunst, eine Rolle, einen Charakter zu beherrschen, ja zu bezwingen und damit erst spielen zu können. Am Ende dankt Lucas mir, dass ich bereit war, meine Improvisation in der Gruppe anzuschauen.
»Ich weiß, dass es nicht einfach ist, sich solche Momente wieder anzusehen«, sagt er zu mir. »Aber ich kann mich nur wiederholen, eins darf man nie vergessen: Wir sind nicht, was wir spielen.«
Ich wünsche mir so sehr, dass er recht hat. Immer noch dröhnen mir meine schrecklichen Worte im Kopf: Verrat … doppelter Betrug … erloschene Liebe.
Meine große Seelennot erschüttert mich, aber da ist noch etwas anderes: Mein Gesicht sieht richtig alt aus. Gezeichnet von einer Schwermut, die am Tag darauf spurlos verschwunden ist! An dem Tag, an dem ich nach meiner Liebesnacht mit Pablo »erwachte«.
Unsere erste Liebesnacht! Als ich mich danach im Spiegel betrachtete, fand ich mich etwas gealtert, aber das hat mir keine Angst gemacht. Das Tilgen der zwölf Jahre muss die Spuren von Kummer in meinem Gesicht ausradiert haben, die im grellen Licht des Films unauslöschlich schienen. Als hätte das Schauspielern das Leben ersetzt.
Das scheint mir so unfassbar, dass ich mich am Ende frage, ob ich nicht tatsächlich nur gespielt habe. Ich bin aufgewühlt, und ich muss eine Erklärung für diese Eifersuchtsszene finden. Wann bin ich in meinem früheren Leben je eifersüchtig gewesen? Ist das eine Wahrnehmung meiner Vernunft, die unbedingt einen Grund finden muss, oder eine Grille, die mich glauben lässt, es stecke ein Funken Wahrheit in der Szene? Sollte ich die Bühne dazu benutzt haben, einen echten Kummer, einen echten Betrug zu verarbeiten?
Aber was ist mit unserer Liebesnacht? Die habe ich mir doch nicht ausgedacht! Selbst wenn sie zwölf Jahre später stattgefunden hat, weiß ich, dass es sie gab. Die Spuren davon konnte ich am nächsten Tag an meinem ganzen Körper spüren und sehen. Und meines Wissens verbringt man keine so rauschende Nacht mit einem Mann, der einen gerade betrogen hat.
Nach dieser Videovorführung bin ich verwirrter denn je. Dabei hatte ich so auf eine Erklärung für alles gehofft. Die anderen sind aufgestanden und verlassen das Theater. Ich bedanke mich eilig bei Lucas, um zu vermeiden, dass ichmit ihm allein zurückbleibe. François umarmt mich. Als die anderen fort sind, schlägt er vor, noch irgendwo auf einen Drink einzukehren.
Schweigend gehen wir eine Weile nebeneinanderher. Ziellos.
»Weißt du, Marie«, sagt François dann, »nach dieser Improvisation habe ich darauf gewartet, dass du wieder ins Theater kommst, aber du kamst nicht. Ich hatte so sehr den Wunsch, dich in meine Arme zu schließen, dich zu trösten … Wie soll ich dir das erklären? Es ist, als wäre ich wirklich das Schwein, das dich verraten hat. Es ist idiotisch, als Schauspieler so zu reden. Marie, verzeih mir, wenn ich indiskret bin, aber den wahren Kern, den du in unsere Szene eingebracht hast, gibt es den oder interpretiere ich zu viel hinein?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich habe keine Erklärung für das, was an diesem Tag geschehen ist. Vielleicht werde ich es ja eines Tages herausfinden … Und dann wirst du es als Erster erfahren, versprochen.«
Ich habe ihn offenbar nicht überzeugt. Er hat den Arm um meine Schulter gelegt.
»Hast du Zeit, noch mit zu mir zu kommen?«
»Nein, tut mir leid, François. Ich rufe dich morgen an …«
»Komm vorbei, wann immer du magst. Ich bin morgen zu Hause, ich habe jede Menge Textarbeit zu erledigen.« Er küsst mich, seine sanften Lippen lösen ein Kribbeln in mir aus.
Auf dem Nachhauseweg spielt
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