Die Liebe der anderen
dann wurde sie plötzlich unsichtbar. Sie hatte Liebhaber, die sie benutzte und alsbald verstieß. Sie behandelte sie von oben herab, eine nie zufriedenzustellende Verführerin. Sie unternahm viele Reisen, und wir sahen uns nicht mehr so oft. Wenn sie hin und wieder nach Paris kam, trafen wir uns allein. Sie sagte, sie habe keine Zeit, Freundschaften aufzubauen oder die Leute kennenzulernen, mit denen ich mich umgab. Sie wollte nur mich sehen, mir von sich erzählen, in Erinnerungen schwelgen. Sie sagte: »Für einen Typen, einen Liebhaber oder Partner sind diese Sentimentalitäten von Busenfreundinnen nervig. Meine Zeithier ist zu knapp, um dich zu teilen.« Ich habe das verstanden und hatte nichts dagegen.
Und nun träume ich von ihr, und eine Episode aus unserer Kindheit kommt mir wieder in den Sinn. Wie alt waren wir an jenem Tag, als sie vorgab, das Gedächtnis verloren zu haben? Neun, zehn Jahre? Sicher nicht älter. Wie lange habe ich sie nicht mehr gesehen? Kennt sie Pablo? Warum habe ich seit meinem »Erwachen« nie an sie gedacht? Als ich Pablo vor zwölf Jahren (fünf Wochen) begegnete, war sie seit anderthalb Jahren im Libanon. Wir schrieben uns gelegentlich, eher selten. Kennt sie meine Kinder? Und sie, hat sie die große Liebe gefunden, hat auch sie Kinder? Ich würde sie so gern wiedersehen! Ich bin traurig über all die verflossene Zeit, eine Zeit ohne Orientierungspunkte, ein schwarzes Loch in meinem Leben.
Ich hole mein Adressbuch hervor. Darin steht zwar die Telefonnummer ihrer Eltern, doch von ihr keine Spur. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, ihre Eltern anzurufen, ohne zu wissen, wie wir überhaupt zueinander stehen. Und wenn sie gestorben ist?
Warum beiße ich mich plötzlich so an ihr fest? Sie wird mir keinerlei Information über mein jüngstes Leben liefern. Ich weiß nicht, warum es mir auf einmal so wichtig erscheint, sie wiederzusehen. Vielleicht hat es mit dem Traum zu tun, in dem sie angeblich das Gedächtnis verloren hatte, eine Episode, die ihre einstige Unschuld verloren hat. Ich habe Raphaëls Rat beherzigt. Ich versuche mich an meine Träume zu erinnern. Er hat mir erklärt, dass das wichtig sein könnte, also mache ich mir Notizen. Ich versöhne mich mit meinem verdrängten Wunsch zu schreiben.
Beim Herumstöbern in alten Kartons finde ich Briefe meiner Großmutter, Sachen, die ich als Kind liebte, und Dinge aus noch ferneren Zeiten. Seit zwei Tagen trage ich eine alte Armbanduhr, die einmal ihr gehörte. Man muss sie aufziehen.
Pablo weist mich darauf hin: »Stört dich nicht, dass deine Uhr stehenbleibt, wenn du vergisst, sie aufzuziehen? Diese Unannehmlichkeiten sind passé, seit es Quarzuhren gibt.«
»Nein, mir gefällt das. Ich drehe an der Zeit … Und die Zeit kann stehenbleiben. Weißt du, Pablo, diese kleinen, unbedeutenden Details aus der Vergangenheit sind manchmal sehr wichtig. Vielleicht dachte meine Großmutter an den Lauf der Zeit, wenn sie ihre Uhr aufzog. Mehr als wir, die wir sie wie in einem Rausch verbringen und erleben. Wir lassen uns mitreißen, es gibt kein Halten …«
»Hat meine Frau den Blues?«
»Möglich, aber ich bin nicht die Einzige. Was kannst du mir über die Zeit erzählen, als wir noch keine Kinder hatten? Welche konkreten Erinnerungen hast du daran? Wie viele Tage aus diesen vier Jahren könntest du mir genau schildern? Zwei? Drei? Eine Woche? … Ich will mich nicht drücken, die Frage stelle ich auch mir selbst.« In diesem Moment finde ich, dass ich ein fast absurdes Risiko eingehe, aber sei's drum, nun ist es zu spät. »Was bleibt uns von diesen flüchtigen Augenblicken?« Mir nichts, aber das werde ich ihm jetzt noch nicht unter die Nase reiben. »Erklär mir den Unterschied zwischen einem Moment, den du tatsächlich erlebt hast, und einem, den du dir vielleicht nur erträumt hast … Aus dem einen wird eine Erinnerung und aus dem anderen ein Bedauern. Manche Menschen verwandeln diese Momente der Sehnsucht mit Vorliebe in Erinnerungen. Aber Nostalgie erzeugen am Ende beide, oder?« Ich halte inne.
Pablo lächelt sanft und, wie mir scheint, mit einem Hauch von Schalk in den Augen. »Solche Fragen stelle ich mir gar nicht, Marie. An meinem Geburtstag denke ich höchstens mal, dass die Zeit zu schnell vergeht. Ich erinnere mich noch, wie wir spazieren gingen und ich dir erklärte, ich sei immer noch achtzehn, erinnerst du dich?«
»Nein, nicht so richtig …«
»Na bitte! Auf uns beide, verdoppeln wir den Einsatz aufunsere
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