Die Liebe der anderen
Erinnerungen!« Wenn er wüsste, wie viel besser er mit seinem Spielstand dasteht als ich! »Meine Erinnerungen sind zu schön, als dass ich darüber traurig sein müsste«, fügt er hinzu. »Sie sind Vergangenheit, in der Gegenwart sind andere Ereignisse an ihre Stelle getreten. Meine Erinnerungen sind eine Art persönliches Kino. Und manchmal besuche ich dieses Kino: Ich sehe dich wieder vor mir, bei der Geburt von Youri. Du bist so schön, ganz in Blau, mit diesem winzigen Säugling in deinem Arm, dessen Mund an deiner Brust klebt. Und deine Verwunderung erstaunt mich. Du sagst: ›Kannst du dir das vorstellen, Pablo? Er ist aus mir herausgeschlüpft. Wir beide haben ihn produziert! Ist das nicht unglaublich? Das ist das Schönste, was ich je in meinem Leben auf die Beine gestellt habe!‹«
Die Ungerechtigkeit des Vergessens tut sich vor mir auf wie ein Abgrund. Ich breche in Tränen aus. Pablo nimmt mich bekümmert in den Arm.
»Entschuldige, Marie, es tut mir leid, ich wollte dich nicht zum Weinen bringen.«
Ich schmiege mich an ihn. »Nein, nein, du kannst nichts dafür …« Ich habe nicht einmal die Kraft, ihn anzulügen.
Pablo führt mich ins Schlafzimmer und entkleidet mich. Er hilft mir, ein leichtes Nachthemd überzuziehen. Mein Körper teilt ihm mit, was mir fehlt und worüber ich nicht zu sprechen wage, und er umgibt mich mit einer Zärtlichkeit, die ich nicht kenne. Ich gleite in einen süßen Traum. Ich sehe Youri als Säugling, an meiner Brust trinkend, in einem aseptischen weißen Raum. Pablos Mutter küsst mich und gratuliert. Dann sagt sie mir mit feierlicher Stimme: »Als ich Pablo bekam, lag er auch so in meinem Arm, ich war müde und habe fünf Minuten die Augen geschlossen. Als ich sie wieder öffnete, war er fünfundzwanzig. Marie, passen Sie auf, die Zeit vergeht so schnell. Erleben Sie jede Sekunde mit Ihrem Kind wie ein Geschenk …«
Ich wache auf, vollkommen klar, alarmiert, aufgewühlt.Ich stehe auf. Ich gehe in unserer Wohnung auf und ab und denke nach. Es ist drei Uhr morgens. Ich erinnere mich ganz genau an meinen Traum, an Youris kleines Köpfchen; woher wusste ich, dass er es ist? Ich bin aufgeregt. Ist das eine Erinnerung? Ein Traum? Ich spüre wieder Tränen in mir aufsteigen. Morgen werde ich Pablos Mutter anrufen. Ich werde schon einen Vorwand finden, um sie auszufragen. Wenn dieses Gespräch tatsächlich stattgefunden hat, wird sie sich gewiss daran erinnern.
Ich muss Raphaël sehen. Ich möchte wissen, ob diese Art der Erinnerung, wenn es denn eine ist, einen größeren Schub ankündigt, oder ob meine Vergangenheit zumindest in homöopathischen Dosen zurückkehren wird. Henri sagten die Ärzte damals, dass ein weiterer Schock derselben Art unter Umständen alles auf einmal wieder hervorholen könnte … Unter Umständen. Das heißt eventuell, aber möglicherweise werde ich den Rest meines Lebens so leben wie jetzt, mit diesem ewigen Verlust.
»Zoé, gib mir bitte mal das Telefon, Schatz … Nein, nicht weinen. Hallo? Ach Sie sind es, Olga.«
»Schon lustig, was für eine Anziehungskraft dieses abscheuliche Gerät auf Kinder hat, nicht wahr?«
Ich lache über ihre Worte, vor allem aber über das Geschenk des Himmels, das ihr Anruf für mich ist. »Sagen Sie, Olga, gestern Abend hatten Pablo und ich eine lebhafte Diskussion über das Vergehen der Zeit, über unsere Wahrnehmung der Vergangenheit, unsere Erinnerungen. Und ich würde Sie gern etwas fragen: Erinnern Sie sich daran, mir etwas Besonderes gesagt zu haben, als Sie mich nach Youris Geburt in der Klinik besuchten?«
»Ich vermute, Sie meinen den Moment, als Sie Ihren Sohn gerade stillten?«
Ich mache fast einen Luftsprung vor Freude. Ich kann kaum sprechen, hauche nur. »Ja.«
»Ich habe Ihnen von Pablos Geburt erzählt. Youri sah ihm sehr ähnlich. Das habe ich Ihnen nicht gleich gesagt, weil ich weiß, wie verletzend es für eine Mutter sein kann, ein Kind neun Monate lang in sich zu tragen, es auf die Welt zu bringen und dann seine Schwiegermutter ausrufen zu hören: ›Oh, er ist meinem Sohn ja wie aus dem Gesicht geschnitten!‹ Das weiß ich, weil ich es selbst erlebt habe … Um aber auf Youri und Pablo zurückzukommen, damals erzählte ich Ihnen etwas über das Dahineilen der Zeit, das einem umso bewusster wird, wenn man Kinder hat.«
»Sagten Sie, Sie hätten fünf Minuten die Augen geschlossen … und sie erst nach fünfundzwanzig Jahren wieder geöffnet?« Ich erkläre ihr, ich hätte Pablo
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