Die Liebe der anderen
Manhattan ist unverändert blau, hier ist schon Sommer. Im Central Park wimmelt es von Frischverliebten. Auch mir ist flatterhaft zumute. Und du, wie ist dein Leben mit Pablo? Erzähl doch mal. Und wie geht es den Kindern?«
Ich bin gerührt, wir haben den Kontakt gehalten, wir schreiben uns. Was macht sie in New York? Hat sie vielleicht eine Stelle bei einer humanitären Einrichtung? In Beirut, ihrer letzten Station, an die ich mich erinnere, kümmerte sie sich um Kinder mit Kriegstrauma.
Plötzlich habe ich eine Idee. Ich schaue im Ordner der gesendeten Nachrichten nach, was ich wohl so geschrieben habe; ich finde nur eine, sie datiert von neun Tagen vor meinem »Erwachen«. Aufgeregt öffne ich sie.
»Liebe Geneviève, ich habe dir ja schon erzählt, dass ich nicht mehr bei
TV Locale
arbeite. Ich hatte das Gefühl, es wäre besser so. Ich glaube, es war wichtig, im richtigen Moment aufzuhören und mir Zeit für mich, für die Kinder und auch für Pablo zu nehmen. Ich habe, wie gesagt, ein sehr schweres Jahr hinter mir. Ich möchte dir jetzt nicht weiter damit auf die Nerven gehen (letztes Mal hattest du diese unsinnigen Schuldgefühle, weil du nicht sofort gekommen warst). Nur so viel: Es war höchste Zeit aufzuhören. Im Moment kann ich nicht mehr dazu sagen. In meinem Leben passieren gerade eine Menge wichtigere Dinge. Entschuldige,dass ich mich so bedeckt halte. Unsere Gespräche, die trotz der Entfernung sehr intensiv geblieben sind, bedeuten mir viel, und ich erinnere mich zu gern an meine Besuche bei dir in New York. Ich hoffe, bald wieder kommen zu können. Kuss, Marie.«
Ich bin enttäuscht und ratlos. Ich erzähle Geneviève nicht mehr alles. Entweder bin ich verschlossener geworden, oder mir ist etwas so Schlimmes widerfahren, dass ich nicht darüber reden möchte. Jedenfalls nicht sofort, denn offenbar habe ich vor, sie später einzuweihen. Ich erkenne meinen Umgang mit schwierigen Situationen wieder. Zunächst allein handeln, und anschließend mit meinen Nächsten sprechen.
Wie kommt es eigentlich, dass sie noch allein ist? Sie war doch so attraktiv … Sie muss jetzt … mal sehen … immer diese blöde Rechnerei, plus zwölf … das macht fünfunddreißig. Ein altes Mädchen, obwohl das heutzutage nichts mehr heißt.
Die übrigen gesendeten und eingegangenen Nachrichten sind uninteressant. Ich sauge mir als Antwort etwas Freundliches aus den Fingern, je nachdem, wie vertraut sie klingen. Als ich das Adressbuch überfliege, stoße ich auf den Namen eines Freundes von vor zwölf Jahren.
Ich habe Lust, mich wieder einzuklinken in diese Welt, deren Werkzeuge ich benutze, ohne sie zu verstehen. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, ich müsste mich vielleicht doch mal ernsthaft mit der Technikgeschichte der vergangenen zwölf Jahre beschäftigen. Ich fühle mich ausgeschlossen. Ich bin nicht mehr die Fünfundzwanzigjährige von damals, aber siebenunddreißig bin ich auch nicht. Eine schreckliche Vorstellung: Ich bin weder jung noch alt, ich bin Teil einer anderen Welt, der Welt des Nicht-Erlebten …
Das Schuljahr ist schnell vergangen. Ich habe mich daran gewöhnt, tagtäglich nun mit meinen Kindern von den Weinstöckenin der Rue Saint-Vincent hinunter zur Statue der Verliebten zu schlendern. Wir sind viel zusammen, das vertieft unsere Beziehung. Sie bringen mich der Kindheit näher, und sie entfernen mich von ihr.
»Was hast du gemacht, bevor du in meinem Bauch warst?«
»Ich kümmerte mich um Menschen, die gestorben waren, und danach waren sie nicht mehr tot …«
Mit derartigen Gesprächen gemahnen mich meine Kinder, in den Tiefen meiner Identität nachzuforschen. Mit ihren acht und vier Jahren Erinnerung haben Youri und Lola Kontakt zu einem »Ich«, das offensichtlich nichts mit jenem Gebilde zu tun hat, das wir Erwachsene darunter verstehen. Sie haben Zugang zu einer anderen Dimension, tauchen in die Tiefen eines Seins, das sich von unserem trügerischen Begriff eines oberflächlichen »Ich« unterscheidet. Sie sitzen nicht im Makramee der angehäuften Jahre fest, einem Knäuel aus Vorstellungen, Ideen und Wünschen, auf denen wir uns errichten. Diese Basis ist mir abhandengekommen, und obwohl ich sie wiederzufinden versuche, frage ich mich, ob mein Gedächtnis, dessen Verlust mir für kurze Zeit unersetzbar erschien, nichts anderes war als Hochmut, gemacht aus Versprechen, die ich niemals gehalten hätte. Wenn meine Ahnung stimmt, kann das Vergessen etwas bewirken, das unser Gedächtnis
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