Die Liebe der anderen
klarmachen wollen, dass die Anzahl unserer konkreten Erinnerungen sehr begrenzt sei und selbst jemand mit einem guten Gedächtnis an seiner Vergangenheit amputiert sei. Das Wort »Amputation« erscheint ihr zu brutal. Mir nicht!
»Aber je mehr Zeit vergeht, desto wahrer wird das, was Sie sagen«, gesteht sie. »Wir treffen eine Auswahl. Ich für mein Teil bin überzeugt, dass die Erinnerungen sich irgendwo in unserem Kopf versteckt halten. Manchmal fällt es mir schwer, mich dran zu erinnern, was ich am Tag zuvor mit Carlos gemacht habe, während ich mich ohne Probleme an ganze Fresken aus meiner frühsten Kindheit in Russland mit meinen Schwestern erinnere.«
Ich unterbreche sie. »Olga, machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind weit davon entfernt, senil zu sein … Aber ich habe Sie mit meinen Geschichten vom eigentlichen Grund Ihres Anrufes abgelenkt.«
»Ja, ich wollte Ihnen mitteilen, dass das Haus unserer Freunde auf Mauritius in den nächsten Monaten leersteht. Pablo fragte ja danach. Nach Uzès könnt ihr also mindestens noch fünf Wochen dort verbringen.«
Ich wusste nicht, dass Pablo seine Eltern gebeten hatte, sich um unsere Ferien zu kümmern. Vielleicht geht es umdas Haus, über das wir auf Malta gesprochen haben, vielleicht wollte er mich damit überraschen?
»Ich habe schon versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen, aber da ging nur die Mailbox ran. Wollt ihr nicht am Sonntag zu uns aufs Land kommen, wenn das Wetter schön ist?«
»Vielen Dank, Olga. Bei schönem Wetter können Sie fest mit uns rechnen. Ich muss jetzt Schluss machen, Zoé turnt hier herum und …«
Olgas Bestätigung hat mich so aufgewühlt, dass ich nicht mehr stillsitzen kann vor Ungeduld. Meine erste wiederkehrende Erinnerung. Und was für eine! Der Anblick meines ersten Kindes. Ich darf also glauben, dass alles noch da ist. Anders als Henri habe ich keine Angst vor all den Türchen, die sich noch öffnen könnten … Ein Teil der Schwierigkeiten ist mir inzwischen schon bewusst, aber von Tag zu Tag scheinen sie mir akzeptabler. Ich rufe Raphaël an. Ich erzähle ihm von der Episode aus meinem Traum und meiner Begegnung mit Henri. Wir verabreden uns für die nächste Woche.
Ab und zu höre ich Nachrichten auf meiner Mailbox ab, die ich nicht zuordnen kann. Ich rufe nicht zurück. Wenn ich jemanden am Apparat habe, lasse ich ihn reden. Die Geschäftspartner, die noch nicht über meine Kündigung informiert sind, verweise ich freundlich an
TV Locale et Compagnie
. Nur eine Nachricht macht mich neugierig, deshalb habe ich mir den Namen und die Rückrufnummer notiert: »Bonjour, Marie, hier ist Dominique Mariette. Ich glaube, wir sollten uns in dieser Woche wiedersehen, aber vielleicht habe ich mir das Datum falsch notiert. Kann auch sein, dass wir am Donnerstag nur telefonieren wollten, um ein Treffen zu vereinbaren, ich weiß es nicht mehr. Hoffentlich geht es dir gut. Gib den Kindern einen Kuss von mir. Ich habe ein neues Handy, die Nummer ist … Bis bald, ich umarme dich.«
Ich bin sicher, dass ich den Namen schon einmal irgendwo gelesen habe. Ich sehe in meinem Organizer nach, im Adressverzeichnis. Der Name steht drin, aber das verrät mir nichts über die Identität dieser Dominique. Trotzdem ist mir der Name vertraut. Auch François hat mir eine Nachricht aufgesprochen. Er fragt sich, warum ich nicht mehr ins Theater komme und mich nicht bei ihm melde. Ich verspreche ihm, am Nachmittag kurz bei ihm vorbeizuschauen.
Vorher bin ich mit Pablo zum Mittagessen an der Place des Vosges verabredet. Ich habe jedes Mal Herzklopfen, wenn ich ihn treffe. Ich mache mich zurecht wie eine Frau vor einem Rendezvous mit dem Mann, den sie liebt.
Ich schreibe … Ich befinde mich in einem schummrigen Zimmer, einer Mansarde. Die Sessel sind aus Leder, die Lampen haben rote Schirme. Ich sitze an einem kleinen Sekretär, und ich weine. Ich sehe Türen, die sich schließen. Ich fühle mich schlecht, ich brauche Luft und Licht. Ich weiß, dass draußen herrliches Wetter ist. Also stehe ich auf, öffne das Fenster und stoße die Läden auf. Aber dahinter sind noch weitere Läden, und immer wieder neue, und ich gelange nie ans Tageslicht. Das Gefühl ist so beengend, dass ich aufwache.
Das Zimmer ist blau und sehr stilvoll eingerichtet. Fast königlich. Auf dem kleinen Tisch thronen noch der Champagnerkühler und die Überreste des Menüs. Ein kurzer Blick auf Pablos Armbanduhr sagt mir, dass es fünf Uhr nachmittags ist. Meine ist schon wieder
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