Die Liebe der anderen
gesprochen«, bemerkt Catherine sehr zutreffend. »Hinter dieser Befangenheit muss doch irgendetwas stecken. Die Entscheidung, so wichtige Begebenheiten in eurem Leben für dich behalten zu wollen, ist mehr als seltsam. Er ist immerhin der Mann, den du liebst und der dich liebt, oder?«
Ausgestattet mit all den Geschichten und Anekdoten, die sie aus ihrem Gedächtnis hervorgekramt haben, bin ich nun gewappnet für den Familienurlaub. Ich fühle mich nicht mehr isoliert in meinem Vergessen, nicht mehr so ausgesperrt. Sicher, ich verfüge nur über äußerliche Erinnerungen, wahrgenommen vom Standpunkt meiner Freundinnen. Zum ersten Mal in meinem Leben besitze ich ein Gedächtnis ohne das Gefühl des Erinnerns. Ich weiß von den Ereignissen in meinem Leben, als hätte ich sie in einem Roman gelesen, als gehörten sie nicht wirklich zu mir.
Mit einem Mal wird mir bewusst, dass Raphaël der einzige meiner Familie nahestehende Mann ist, dem ich von meiner Amnesie erzählt habe. Ich frage ihn, ob er mir als Freund ein paar Erinnerungen mitteilen könnte, unabhängig von unserer therapeutischen Arbeit. Ich möchte keinen ausschließlich weiblichen Blick auf mein früheres Leben. Außerdem merke ich, dass meine Freundinnen, obwohl sie sehr nett sind und mir nur helfen wollen, es doch auf eine sehr subjektive Weise tun.
Raphaël ist einverstanden, wenngleich er ein paar Vorbehalte äußert. Unsere Diskussion zeigt, dass ich meine Beziehung zu den anderen besser definieren und mir klar darüber werden sollte, ob ich mich in ihre Denkweise hineinziehen lassen möchte oder nicht.
Er macht mich mehrmals darauf aufmerksam, dass ich in meinem Anspruch auf wahre Liebe bereit zu Zugeständnissenwar, aber keineswegs zu Kompromissen. Wenn die Authentizität verletzt wurde, gab es keinen Weg zurück.
»Wollte ich den Weg zurück noch unmöglicher machen, als er ohnehin schon war?«
Er weigert sich, meine Frage zu beantworten. Aber inzwischen kann ich mich in unseren Gesprächen bewegen. Sobald ich eine zu gewagte, zu einfache oder mir willkommene Interpretation wittere, schlägt er Alarm. Also hangele ich mich in zaghaften Schritten am Abgrund entlang oder über ein Seil zwischen zwei Bergen. Doch ich weiß, dass ich nicht hinabstürzen werde. Diese Gewissheit ist die größte Errungenschaft, die ich über mein früheres Leben erworben habe. Ich weiß, wenn ich in Gefahr bin!
III
»Alles in Ordnung, Marie? Seit wir aus Paris raus sind, hast du keinen Ton mehr gesagt.«
Ich höre ihn wie in einem Traum. Sehe ich aus, als ginge es mir schlecht? Er hat recht, die Kinder sind eingeschlafen, und meine Gedanken schweifen in den Weiten der Stille umher. Doch mir sind meine Gedanken schon laut genug.
Pablo zieht mich auf. »Du bist mir ja eine schöne Reisegefährtin!«
Ich spüre, dass er mich zur Not auch in eine langweilige Unterhaltung verwickeln würde, um mich wach zu halten. Es war eine gute Idee, heute aufzubrechen, es ist kaum jemand unterwegs. Ich biete ihm halbherzig an, ihn abzulösen, wenn er müde ist. Er soll merken, dass es mich Überwindung kostet, mit ihm zu reden.
»Schon in Ordnung, ich glaube, ich mache ein kleines Schläfchen, weck mich, wenn wir da sind.«
»Idiot!« Ich vergrabe meine Hand in seinen Haaren. Sie sind lang, und kringeln sich in schwarzen Locken, die ich zwischen meinen Fingern tanzen lasse. Ich liebe diesen ungebändigten Wildwuchs, der sein lachendes Gesicht einrahmt.
»Du scheinst dich auf unser Häuschen zu freuen.«
Wenn er wüsste, wie recht er hat! Ich würde ihn gern fragen, woher wir das Haus haben, aber das geht natürlich nicht. Wie lange waren wir nicht mehr dort? Das traue ich mich auch nicht. Eine innere Stimme flüstert mir zu, dass ich diesen Ort lieben werde.
Ich werfe einen Blick auf die Rückbank. Youri und Lolahaben sich Kopf an Kopf zusammengekuschelt, Zoé sieht aus wie ein Engel in ihrem Kindersitz. Pablo hat meinen Blick verstanden und schaut in den Rückspiegel.
»Sie sind zu süß, nicht?« Er hat meine Gerührtheit gespürt.
Obwohl er die Gründe meines Wunsches nicht kennt, hat Pablo richtig gesehen: Ich kann es kaum erwarten, endlich in unserem Häuschen anzukommen. Ich hoffe, dort meine Notizen aufzuspüren. Und dann werde ich eine Entscheidung treffen. Wenn ich mit Pablo reden muss, werde ich es in den Ferien tun, dann haben wir Zeit füreinander. Deshalb war ich wohl auch so froh, Paris zu verlassen. Hoffentlich kennen mich nicht zu viele Leute im Dorf.
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