Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
Erwartungsvoll sah sie zu Jörg. Der rieb sich das runde Kinn, deutlich von der Anstrengung gezeichnet, den Ausführungen zu folgen. Sie zwang sich zu mehr Geduld, bevor sie nach einer Weile flehentlich hinzufügte: »Versteh doch, was diese winzige Änderung bewirken würde. Einerseits schmeichelt der prächtigere Entwurf dem Bauherrn, weil er Jonas’ herausgehobene Stellung bei Hofe innen wie außen am Wohnhaus sichtbar werden lässt. So macht man sich als Baumeister den Bauherrn wohlgesinnt. Andererseits erregt man als Baumeister mit einem derart schmucken Bau selbst großes Ansehen. Das beschert einem weitere Aufträge von Bürgern, die ebenso stattlich wohnen wollen.«
»Ich weiß nicht«, war alles, was Jörg dazu sagte.
Aufgebracht schnaubte Dora, sah ihn an, wartete. Als er ihr keinen weiteren Blick mehr schenkte, nahm sie das Werkmeisterbuch, ging zum zweiten Tisch an der Stirnseite der Werkstatt, blätterte in Laurenz Seleges Aufzeichnungen. Tränen standen ihr in den Augen. Wenn Jörg sie doch nur machen ließe! Der Oktavband steckte voller Anregungen für ein Gebäude wie das von Gerichtsrat Jonas. Gemeinsam könnten der Bruder und sie dem Vater zu neuen Aufträgen verhelfen und damit der gesamten Familie einen besseren Stand verschaffen. Zudem würde Jörg die lang ersehnte Achtung des Vaters gewinnen.
Behutsam strich sie über den Einband des Werkmeisterbuchs. Das braune Schweinsleder war reichlich abgegriffen, die Seitenränder wellten sich bereits deutlich nach oben, waren an manchen Stellen sogar eingerissen. Auf jeder einzelnen Seite, mittels jeder der unzähligen Zeichnungen, Erläuterungen und Berechnungen in dem Buch wurde klar, um welch außergewöhnlichen Schatz es sich handelte. Dora war sich gewiss: So eifersüchtig der Vater das Buch hütete, so wenig begriff er, was sich damit zu ihrer aller Vorteil anfangen ließe. Für ihn war es vor allem ein wertvolles Andenken an seinen Vater und seines Vaters Vater. Gedankenverloren fuhren ihre Fingerkuppen über das rauhe Papier. Deutlich spürte sie die Rillen des Reißstifts, mit denen der Blindriss eines Wimpergs gefertigt worden war. Fast hundert Jahre waren vergangen, seit Urahn Laurenz Selege die Zeichnung mit dunkelbrauner Tinte nachgefahren sowie die knappen, aber äußerst hilfreichen Anweisungen für das Anlegen eines Grund- und Aufrisses, die Konstruktion eines Gebäudes und die notwendige Beschaffenheit des Bauuntergrundes niedergeschrieben hatte. Dazwischen fanden sich immer wieder Abbildungen von Ordensburgen, Häusern, Stadt- und Wallanlagen, wie sie vor langer Zeit von den damaligen Kreuzherren errichtet worden waren. So viele Jahre seit dem Anfertigen der Aufzeichnungen vergangen waren, so wertvoll blieben sie bis in alle Ewigkeit. Wut erfasste Dora. Offenbar war sie die Einzige in der Familie, die sich dessen bewusst war.
»Lernst du das alte Zeug etwa auswendig?« Jörgs Stimme erklang dicht neben ihr. Auf leisen Sohlen musste er zu ihr gekommen sein. Sie hob den Kopf, sah, wie er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Seiten wies. Seine Augen spiegelten Unverständnis. Dabei war der Wimperg mit seinem spitzen Giebel, den eine Kreuzblume krönte und den zwei Fialen rechts und links der Bogenansätze bekränzten, trotz dieser Schlichtheit in seiner Kunstfertigkeit mehr als beeindruckend. Ahn Laurenz benötigte nur eine Handvoll Zeilen, um die Berechnung der Größenverhältnisse von Portal, darüber zu errichtendem Wimperg, den Fialen und der Kreuzblume vorzuführen. Ohne weitere Umschweife ließe sich das als Anleitung auf das Haus des Gerichtsrats übertragen.
»Das stünde dir wohl weitaus besser an als mir. Dann würdest du vielleicht endlich begreifen, wie leicht du den Plan für Jonas’ Haus verbessern und wie sehr du damit Vater beeindrucken könntest.« Langsam richtete sie sich auf, stemmte die Hände in die schmalen Hüften und reckte das spitze Kinn trotzig nach oben. Für eine Frau war sie groß gewachsen. Jörg überragte sie nur wenig. Sein breites Kreuz, die kräftigen Arme und vor allem die großen Hände ließen trotz seiner vornehmen Kleidung keinen Zweifel daran, dass er schwere körperliche Arbeit gewohnt war. Leider verriet allerdings auch schon der erste Blick in seine rehbraunen Augen, wie wenig er mit schriftlichen Aufzeichnungen wie denen in dem Werkmeisterbuch anzufangen wusste. Dora pustete eine Strähne ihres welligen dunkelblonden Haares von der leicht nach oben gebogenen Nasenspitze. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher