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Die Liebe des letzten Tycoon

Die Liebe des letzten Tycoon

Titel: Die Liebe des letzten Tycoon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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Zigarre fiel. Flieshacker setzte mit verblüffter Miene zum Sprechen an, aber da reichte man Stahr einen Telefonapparat über die Schulter.
    »Ihr Vorzimmer, Mr. Stahr.«
    »Ah ja… hallo, Miss Doolan. Ich weiß jetzt, wie das mit Zavras gelaufen ist. Es ist eins dieser gemeinen Gerüchte… da wette ich mein Hemd drauf. Haben Sie…? Gut. Jetzt machen Sie Folgendes: Sie schicken ihn heute noch zu meinem Augenarzt, Dr. John Kennedy, von dem soll er sich den Befund geben lassen, und Sie kopieren ihn – alles klar?«
    Er legte auf und wandte sich in einer plötzlichen Gefühlsaufwallung an die ganze Gruppe.
    »Hat einer von euch schon gehört, dass Pete Zavras erblinden soll?«
    Der eine oder andere nickte, aber die meisten warteten in atemloser Spannung, ob Stahr sich gerade bei seinen Zahlen vertan hatte.
    »Alles blühender Unsinn. Er war nicht mal beim Augenarzt und hat nie begriffen, warum die Studios nichts mehr von ihm wissen wollten«, sagte Stahr. »Irgendjemand konnte ihn nicht leiden oder irgendjemand hat zu viel geredet, und jetzt kriegt er seit einem Jahr keine Aufträge mehr.«
    [82] Pflichtschuldig mitfühlendes Gemurmel erhob sich am Tisch. Stahr zeichnete die Rechnung ab und machte Anstalten aufzustehen.
    »Entschuldige, Monroe«, beharrte Flieshacker, scharf beobachtet von Brady und Popolous. »Ich bin hier ziemlich neu, und vielleicht fehlt mir das implizite oder explizite Verständnis für die Situation.« Er sprach schnell, aber die Stirnadern schwollen ihm vor lauter Stolz über die großen Worte, die er an der New York University gelernt hatte. »Verstehe ich dich recht, dass du damit rechnest, eine Viertelmillion unter Budget einzuspielen?«
    »Es handelt sich um einen Film gehobener Qualität«, erklärte Stahr scheinbar harmlos.
    So langsam dämmerte es allen, auch wenn sie nach wie vor den Verdacht hatten, Stahr könne sich in Wirklichkeit von dem Film einen Gewinn erhoffen, denn schließlich würde kein vernünftiger Mensch…
    »Zwei Jahre sind wir auf Nummer sicher gegangen«, sagte Stahr. »Wird Zeit, dass wir einen Film machen, mit dem wir in die roten Zahlen kommen. Wir können es als eine Geste des guten Willens abschreiben, so was erschließt uns neue Zuschauerkreise.«
    Einige glaubten immer noch, er setze auf eine günstige Spekulation – bis er die letzten Unklarheiten beseitigte. »Wir werden Geld damit verlieren.« Er stand auf, das Kinn leicht vorgeschoben, ein Lächeln in den blitzenden Augen. »Wenn er gerade so die Kosten deckt, ist das ein größeres Wunder als Hell’s Angels. Aber wir haben gewisse Pflichten unserem Publikum gegenüber, wie Pat Brady bei den Essen der Academy zu sagen pflegt. Es macht sich gut in [83] unserem Programm, wenn wir einen Film einschieben, mit dem wir Verlust machen.«
    Er nickte Prinz Agge zu. Der verbeugte sich höflich und versuchte vergeblich, mit einem letzten Blick die Wirkung von Stahrs Worten auf die Gruppe zu erfassen. Die Augen, die nicht so sehr niedergeschlagen als auf einen unbestimmten fernen Punkt knapp oberhalb der Tischplatte gerichtet waren, blinzelten jetzt rasch, aber im Raum war nicht einmal ein Flüstern zu hören.
    Vom Speisesaal aus mussten sie ein Stück durch die eigentliche Kantine gehen. Begierig nahm Prinz Agge das bunte Gewimmel von Zigeunern und Bürgern, von Soldaten mit den Koteletten und betressten Waffenröcken des Ersten Kaiserreiches in sich auf. Aus einiger Entfernung hätte man sie wirklich für Menschen halten können, die vor hundert Jahren gelebt hatten, und Agge überlegte, wie er und seine Zeitgenossen sich wohl als Komparsen in einem zukünftigen Kostümfilm ausnehmen würden.
    Dann sah er Abraham Lincoln, und seine Stimmung schlug jäh um. Er hatte als Kind und Jugendlicher die Anfänge des skandinavischen Sozialismus miterlebt. Damals war die Lincoln-Biographie von Nicolay eine beliebte Lektüre gewesen. Man hatte ihm gesagt, Lincoln sei ein großer Mann, den er bewundern müsse, stattdessen hatte er ihn gehasst – so wie man alles hasst, was einem aufgedrängt wird. Jetzt aber, als er ihn dort sitzen sah, die Beine übereinandergeschlagen, den gütigen Blick auf ein Vierzig-Cent-Dinner einschließlich Nachtisch gerichtet, den Schal um den Hals geschlungen wie zum Schutz vor der [84] unberechenbaren Klimaanlage – jetzt aber betrachtete ihn Prinz Agge, endlich in Amerika angelangt, mit großen Augen, nicht anders als ein Tourist den einbalsamierten Lenin im Kreml. Das also war Lincoln. Stahr,

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