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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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vielleicht zog sie sich zum letzten Mal an, und vielleicht war das die letzte Kleidung, die sie je tragen würde. Sie hatte die Haare zu einer Nackenrolle frisiert und sich das Gesicht gepudert. Ihre Sorgfalt, ihre Eitelkeit schienen töricht, waren ihr aber ein Bedürfnis. Sie hatte jetzt drei Nächte hintereinander nicht geschlafen, nicht eine Minute lang, und sie hatte nichts essen können, nicht einmal, um ihrer Mutter etwas vorzumachen.
    »War es diesmal besonders schwer?«, hatte ihre Mutter sich erkundigt. Sie hasste Gespräche über Krankheiten oder das Sterbebett, und dass sie sich zu dieser Frage überwunden hatte, bedeutete, dass Enids Verstörung nicht zu übersehen war.
    »Sind es die Kinder, die du liebgewonnen hast?«, fragte sie. »Die armen kleinen Würmchen.«
    Enid sagte, sie hätte nur das Problem, nach einem langen Fall zur Ruhe zu kommen, und ein hoffnungsloser Fall brachte natürlich besondere Belastungen mit sich. Tagsüber verließ sie das Haus ihrer Mutter nicht, aber nachts, wenn sie sicher sein konnte, niemandem zu begegnen und nicht reden zu müssen, unternahm sie lange Spaziergänge. So kam sie einmal an den Mauern des Kreisgefängnisses vorbei. Sie wusste, hinter diesen Mauern lag ein Gefängnishof, auf dem früher Verurteilte erhängt worden waren. Inzwischen schon seit vielen Jahren nicht mehr. Das geschah jetzt wohl in einem großen Zentralgefängnis, wenn es denn geschehen musste. Und es war lange her, dass jemand aus dieser Gemeinde ein so strafwürdiges Verbrechen begangen hatte.
     
    Als sie Rupert nun am Tisch gegenübersaß, der Tür zu Mrs. Quinns Zimmer zugewandt, hatte sie fast ihren Vorwand vergessen, war fast davon abgekommen, was sie hergeführt hatte. Doch da spürte sie ihre Handtasche im Schoß, das Gewicht ihrer Kamera darin – das rief es ihr wieder in Erinnerung.
    »Ich möchte Sie um etwas bitten«, sagte sie. »Ich dachte, lieber gleich, denn vielleicht ist es sonst zu spät.«
    Rupert fragte: »Was denn?«
    »Ich weiß, Sie haben ein Ruderboot. Also wollte ich Sie bitten, mich hinauszurudern. Dann kann ich ein Foto machen. Ich möchte so gern ein Foto vom Ufer machen. Es ist so schön dort, mit den Weiden am Fluss.«
    »Warum nicht«, sagte Rupert mit dem sorgfältigen Mangel an Erstaunen, den Leute vom Lande angesichts der Unbekümmertheit – oder sogar Unverschämtheit – von Besuchern an den Tag legen.
    Denn das war sie jetzt – eine Besucherin.
    Sie hatte vor, zu warten, bis sie in der Mitte des Flusses angelangt waren, und ihm dann zu sagen, dass sie nicht schwimmen konnte. Nein, ihn erst zu fragen, wie tief seiner Schätzung nach das Wasser war – und er würde bestimmt antworten, zwei bis drei oder sogar dreieinhalb Meter. Und ihm dann zu sagen, dass sie nicht schwimmen konnte. Was nicht einmal gelogen wäre. Sie war in Valley aufgewachsen, am See, und hatte jeden Sommer ihrer Kindheit am Strand verbracht, ein kräftiges Mädchen, das sich bei allen Spielen hervortat, aber das Wasser machte ihr Angst, und da half kein Zureden oder Vormachen oder Verspotten – sie hatte nicht schwimmen gelernt.
    Er brauchte nichts weiter zu tun als ihr mit einem der Ruder einen Schubs zu geben und sie ins Wasser zu stoßen und zuzusehen, wie sie unterging. Dann das Boot draußen auf dem Wasser zu lassen und ans Ufer zu schwimmen, sich umzuziehen und zu sagen, er wäre vom Stall oder von einem Spaziergang hereingekommen, und wo war sie? Sogar die Kamera würde, wenn man sie überhaupt fand, alles nur plausibler machen. Enid war eben mit dem Boot hinausgerudert, um ein Foto zu machen, und irgendwie ins Wasser gefallen.
    Sobald er seinen Vorteil begriff, würde sie es ihm sagen. Und würde fragen: Ist es wahr?
    Wenn es nicht stimmte, würde er sie wegen dieser Frage hassen. Wenn es aber stimmte – und glaubte sie nicht fest, dass es stimmte? –, würde er sie auf andere, gefährlichere Weise hassen. Selbst wenn sie sofort versprach – und es ernst meinte, ganz ernst –, niemandem je etwas davon zu sagen.
    Sie würde sehr leise sprechen, immer im Gedanken daran, wie weit Stimmen an einem Sommerabend auf dem Wasser tragen.
    Ich werde nichts sagen, aber du. Denn du kannst mit solch einem Geheimnis nicht weiterleben.
    Mit einer solchen Last kannst du nicht durch die Welt gehen. Du wirst dein Leben nicht ertragen können.
    Wenn Enid so weit gelangt war, und er weder alles abgestritten noch sie ins Wasser gestoßen hatte, würde sie wissen: sie hatte das riskante Spiel

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