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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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gewonnen. Dann war noch viel Überredungskunst erforderlich, leise, aber fest, um ihn dahinzubringen, dass er ans Ufer zurückruderte.
    Oder aber er fragte ratlos: Was soll ich tun?, und dann führte sie ihn Schritt für Schritt und sagte als Erstes: Rudere zurück.
    Der erste Schritt einer langen, schweren Reise. Dann sagte sie ihm jeden Schritt und blieb so viele Schritte wie möglich bei ihm. Binde jetzt das Boot fest. Geh das Ufer hinauf. Geh über die Wiese. Öffne das Gatter. Sie ging hinter ihm oder vor ihm, je nachdem, was ihm lieber war. Ober den Hof und zur Veranda hinauf und in die Küche.
    Dann werden sie sich verabschieden und getrennt in ihre Autos steigen, und dann wird es seine Sache sein, wohin er fährt. Und sie wird nicht am nächsten Tag das Polizeirevier anrufen. Sie wird warten, und die Polizei wird sie anrufen, und sie wird ihn im Gefängnis besuchen. Jeden Tag oder so oft, wie man es ihr gestattet, wird sie im Gefängnis mit ihm sprechen, und sie wird ihm auch Briefe schreiben. Wenn man ihn in ein anderes Gefängnis verlegt, wird sie dorthin fahren; auch wenn sie ihn nur einmal im Monat besuchen darf, wird sie ihm nahe sein. Und im Gerichtssaal wird sie jeden Tag dort sitzen, wo er sie sehen kann.
    Sie glaubt nicht, dass irgendjemand für so einen Mord, der in gewisser Weise ein Unfall und ganz bestimmt ein Verbrechen aus Leidenschaft war, die Todesstrafe erhalten wird, aber der Schatten ist da, um sie zu ernüchtern, wenn für ihr Gefühl diese Bilder der Hingabe, einer Bindung, die der Liebe gleichkommt, aber über sie hinausgeht, unzüchtig werden.
    Jetzt hat es angefangen. Mit ihrer Bitte, hinausgerudert zu werden, ihrem Vorwand eines Fotos. Beide stehen auf, und sie blickt auf die Tür des Krankenzimmers – nun wieder Wohnzimmer –, die geschlossen ist.
    Sie sagt etwas Dummes.
    »Sind die Bettdecken von den Fenstern abgenommen worden?«
    Er scheint einen Moment lang nicht zu wissen, wovon sie redet. Dann sagt er: »Die Bettdecken. Ja. Ich glaube, Olive hat sie abgenommen. Wir hatten da drin die Leichenfeier.«
    »Ich dachte nur. Sonst bleicht die Sonne sie aus.«
    Er macht die Tür auf, und sie kommt um den Tisch herum, und beide schauen ins Zimmer. Er sagt: »Sie können hineingehen, wenn Sie wollen. Nichts dagegen. Kommen Sie.«
    Das Bett ist natürlich verschwunden. Die Möbel sind an die Wände gerückt worden. Die Mitte des Zimmers, wo sie wohl die Stühle für die Leichenfeier aufgestellt hatten, ist leer. Ebenso der Platz zwischen den Nordfenstern – dort muss der Sarg gestanden haben. Der Tisch, auf den Enid immer die Waschschüssel stellte und die Handtücher, die Watte, die Löffel und Medikamente legte, ist in eine Ecke gequetscht worden, mit einem Strauß Rittersporn darauf. In den hohen Fenstern steht noch helles Tageslicht.
    »Lügen« ist das Wort, das Enid jetzt hören kann, von den vielen Wörtern, die Mrs. Quinn in diesem Zimmer gesagt hat.
Lügen. Alles Lügen, jede Wette.
     
    Konnte jemand etwas so Teuflisches mit allen Einzelheiten erfinden? Die Antwort lautet ja. Das Gehirn einer kranken Person, einer sterbenden Person, konnte sich mit allem möglichen Müll füllen und diesen Müll in überzeugendster Weise arrangieren. Enids eigenes Gehirn hatte sich, als sie in diesem Zimmer schlief, mit den widerlichsten Erfindungen gefüllt, mit Dreck. Lügen dieser Art konnten in den Winkeln des Gehirns lauern, konnten wie Fledermäuse in den Ecken hängen und darauf lauern, jede Art von Dunkelheit auszunutzen. Man kann nie sagen: Niemand könnte das erfinden. Man bedenke nur, wie ausführlich Träume sind, mit ihren vielen Schichten, sodass der Teil, an den man sich erinnern und den man in Worte fassen kann, nur das bisschen ist, das man von der obersten Schicht abkratzen kann.
    Als Enid vier oder fünf Jahre alt war, hatte sie ihrer Mutter erzählt, dass sie in das Büro ihres Vaters gegangen war und dass sie gesehen hatte, wie er mit einer Frau auf den Knien hinter seinem Schreibtisch saß. Von der Frau war ihr, damals wie jetzt, nur in Erinnerung, dass sie einen Hut mit einem Schleier und vielen Blumen darauf trug (ein Hut, der auch zu jener Zeit völlig unmodern war), und dass ihre Bluse oder ihr Kleid aufgeknöpft war und eine nackte Brust herausstand, deren Spitze im Mund von Enids Vater verschwand. Sie hatte ihrer Mutter davon in der völligen Gewissheit erzählt, es gesehen zu haben. Sie sagte: »Eins von ihren Vorderteilen steckte in Daddys Mund.« Sie wusste

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