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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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das Wort für Brüste nicht, obwohl sie wusste, dass sie paarweise vorkamen.
    Ihre Mutter sagte: »Also, Enid! Wovon redest du? Was in aller Welt ist ein Vorderteil?«
    »Wie eine Eistüte«, sagte Enid.
    Und genau so sah sie es. So sah sie es immer noch vor sich. Die hellbraune Eistüte, die mit der plattgedrückten Kugel Vanilleeis am Oberkörper der Frau klebte und mit dem falschen Ende im Mund ihres Vaters steckte.
    Dann tat ihre Mutter etwas völlig Unerwartetes. Sie öffnete ihr Kleid und nahm etwas Dunkelhäutiges heraus, das ihr über die Hand schlappte. »So?«, fragte sie.
    Nein, sagte Enid. »Wie eine Eistüte.«
    »Dann war es ein Traum«, sagte ihre Mutter. »Träume sind manchmal der reine Quatsch. Sag Daddy nichts davon. Es ist zu dumm.«
    Enid glaubte ihrer Mutter nicht sofort, aber nach einem Jahr etwa sah sie ein, dass solch eine Erklärung richtig sein musste, denn Eistüten hafteten niemals in dieser Weise an Damenoberkörpern, und sie waren auch niemals so groß. Als sie noch etwas älter geworden war, erkannte sie, dass der Hut aus einem Bild stammen musste.
    Lügen.
     
    Sie hatte ihn noch nicht gefragt, sie hatte noch nicht gesprochen. Noch verpflichtete sie nichts, ihn zu fragen. Es war immer noch
vorher
. Mr. Willens war immer noch von selbst in den Skagerrak-Teich gefahren, absichtlich oder aus Versehen. Alle glaubten das immer noch, und soweit Rupert wusste, glaubte Enid das auch. Und solange das so war, hielten dieses Zimmer und dieses Haus und ihr Leben eine andere Möglichkeit bereit, ganz anders als die, mit der sie in den letzten Tagen gelebt hatte (oder in der sie geschwelgt hatte – je nachdem, wie man es ausdrücken wollte). Diese andere Möglichkeit kam ihr immer näher, und sie brauchte nichts weiter zu tun, als den Mund zu halten und sie kommen zu lassen. Was konnte nicht aus ihrem Schweigen, ihrem Mittun in Schweigen, für Wohl erwachsen. Das Wohl anderer, und auch das ihre.
    Dies war etwas, was die meisten Menschen wussten. Etwas Einfaches, und doch hatte Enid so lange gebraucht, um es zu begreifen. Dies war, was die Welt bewohnbar hielt.
    Enid hatte zu weinen angefangen. Nicht vor Kummer, sondern vor einem Ansturm der Erleichterung, die sie sich, ohne es zu wissen, erhofft hatte. Jetzt schaute sie Rupert ins Gesicht und sah, seine Augen waren blutunterlaufen, und die Haut darum war faltig und ausgetrocknet, als hätte auch er geweint.
    Er sagte: »Sie war nicht glücklich in ihrem Leben.«
    Enid entschuldigte sich und ging ihr Taschentuch holen, das in ihrer Handtasche auf dem Küchentisch steckte. Jetzt war ihr peinlich, dass sie sich feingemacht, ein so melodramatisches Schicksal angestrebt hatte.
    »Ich weiß nicht, was ich im Kopf hatte«, sagte sie. »In diesen Schuhen kann ich nicht zum Fluss hinuntergehen.«
    Rupert machte die Tür zum Wohnzimmer zu.
    »Wenn Sie wollen, können wir trotzdem gehen«, sagte er. »Irgendwo müssen Gummistiefel sein, die Ihnen passen.«
    Nicht ihre, hoffte Enid. Nein. Ihre wären zu klein.
    Rupert machte eine Kiste im Holzschuppen auf, gleich draußen neben der Küchentür. Enid hatte nie einen Blick in diese Kiste geworfen. Sie hatte gedacht, dass sie nur Brennholz enthielt, woran in jenem Sommer nun wirklich kein Bedarf war. Rupert holte verschiedene einzelne Gummistiefel und sogar Schneestiefel heraus und versuchte, ein Paar zu finden.
    »Die sehen aus, als könnten sie hinkommen«, sagte er. »Vielleicht waren das Mutters. Oder sogar meine, bevor meine Füße ausgewachsen waren.«
    Er zog etwas heraus, das wie ein Stück von einem Zelt aussah, dann, an einem zerrissenen Riemen, einen alten Schulranzen.
    »Hab ganz vergessen, was für Krempel hier drin ist«, sagte er, ließ die Dinge zurückfallen und warf die unbrauchbaren Stiefel hinterher. Er klappte den Deckel zu und stieß für sich einen bekümmerten und förmlich klingenden Seufzer aus.
    Ein Haus wie dieses, das so lange von einer Familie bewohnt und in den letzten Jahren vernachlässigt worden war, beherbergte bestimmt viele Kasten, Schubladen, Borde, Koffer, Truhen und Verschläge voller Sachen, und es würde Enid zufallen, sie zu sortieren, einige aufzuheben und zu beschriften, einige wieder benutzbar zu machen und andere kistenweise auf die Müllkippe zu schaffen. Sollte sie diese Chance erhalten, würde sie nicht davor zurückschrecken. Sie würde dieses Haus zu einem Ort machen, der keine Geheimnisse vor ihr hatte und in dem alle Ordnung so war, wie von ihr verfügt.
    Er

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