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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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eine große Überraschung, als dein Dad aus Kalifornien angerufen hat?
    Er hat nicht angerufen. Meine Mom hat ihn angerufen.
    Ach, wirklich? Das wusste ich gar nicht. Was hat sie denn gesagt?
    Sie hat gesagt: »Ich halt’s hier nicht mehr aus, ich hab’s satt, Lass uns was überlegen, wie ich hier wegkomme.«)
     
    Eve senkte ihre Stimme zu sachlicher Lautstärke, um eine Unterbrechung im Spiel anzuzeigen. Sie sagte: »Philip. Philip, hör mal zu. Ich glaube, wir müssen damit aufhören. Dieser Laster gehört bloß einem Farmer, der hier irgendwo zu Hause ist, und wir können ihn nicht weiter verfolgen.«
    »Doch, können wir«, sagte Philip.
    »Nein, können wir nicht. Die werden wissen wollen, was wir da zu suchen haben. Vielleicht werden sie sehr böse.«
    »Dann rufen wir unsere Hubschrauber, sie sollen kommen und die erschießen.«
    »Sei nicht albern. Du weißt, das ist nur ein Spiel.«
    »Sie werden die erschießen.«
    »Ich glaube nicht, dass sie Waffen haben«, sagte Eve und versuchte es anders. »Sie haben keine Waffen entwickelt, die Aliens vernichten können.«
    Philip sagte: »Das stimmt nicht«, und begann mit einer Beschreibung bestimmter Raketen, der Eve nicht zuhörte.
     
    Als sie in ihrer Kindheit mit ihrem Bruder und ihren Eltern die Ferien in dem kleinen Ort verbrachte, war Eve manchmal mit ihrer Mutter aufs Land gefahren. Sie hatten kein Auto – es herrschte Krieg, und sie waren mit der Eisenbahn hergekommen. Die Frau, die das Hotel leitete, war mit Eves Mutter befreundet, und so wurden sie oft eingeladen mitzukommen, wenn sie aufs Land fuhr, um Mais oder Himbeeren oder Tomaten zu kaufen. Manchmal hielten sie an, um Tee zu trinken und sich das alte Geschirr und die Möbelstücke anzuschauen, die eine geschäftstüchtige Farmersfrau in ihrer guten Stube feilbot. Eves Vater zog es vor, dazubleiben und mit anderen Männern am Strand Dame zu spielen. Es gab da ein großes Betongeviert mit aufgemaltem Damebrett, von einem Dach geschützt, aber ohne umgebende Wände, und dort schoben die Männer sogar im Regen überdimensionale Damesteine mit langen Stangen gemächlich umher. Eves Bruder schaute ihnen zu und ging unbeaufsichtigt schwimmen – er war älter. Das alles war inzwischen verschwunden – sogar die Betonplatte war fort, oder etwas anderes war darauf errichtet worden. Das Hotel mit seinen Veranden, die sich über den Sand erstreckten, war verschwunden, auch der Bahnhof mit seinen Blumenrabatten, die den Namen des Ortes buchstabierten. Ebenso die Eisenbahngleise. Stattdessen gab es ein auf alt getrimmtes Einkaufszentrum mit dem erfreulichen neuen Supermarkt und dem Weinladen und Boutiquen mit Freizeitkleidung und nostalgischen Handwerkserzeugnissen.
    Als sie noch ganz klein war und eine große Haarschleife auf dem Kopf trug, liebte Eve diese Ausflüge aufs Land. Sie aß kleine Marmeladentörtchen und Kuchenstücke, deren Glasur oben fest und darunter weich war, gekrönt von einer blutenden Maraschinokirsche. Sie durfte das Geschirr oder die Nadelkissen aus Satin und Spitzen oder die verblichenen alten Puppen nicht anfassen, und die Gespräche der Frauen, die etwas leicht Bedrückendes hatten, gingen über ihren Kopf hinweg wie die unvermeidlichen Wolken. Aber sie genoss die Fahrten auf dem Rücksitz und stellte sich dabei vor, auf einem Pferd oder in einer königlichen Kutsche zu sitzen. Später weigerte sie sich mitzukommen. Sie begann es zu hassen, hinter ihrer Mutter herzuzockeln und als die Tochter ihrer Mutter vorgestellt zu werden. Meine Tochter Eve. Wie genüsslich herablassend, wie zu Unrecht besitzergreifend diese Stimme in ihren Ohren klang. (Später sollte sie diese Stimme oder eine Spielart davon als Grundton bei ihren überzogensten Chargen einsetzen.) Sie verabscheute auch die Gewohnheit ihrer Mutter, sich fein zu machen und auf dem Land große Hüte und Handschuhe zu tragen und hauchzarte Kleider, auf denen erhabene Blumen waren, wie Warzen. Die flachen Schnürschuhe dagegen – sie wurden den Hühneraugen ihrer Mutter zuliebe getragen – wirkten peinlich plump und ärmlich.
    »Was hast du an deiner Mutter am meisten gehasst?«, war ein Spiel, das Eve in den ersten Jahren nach ihrer Nestflucht mit ihren Freundinnen spielte.
    »Korsetts«, sagte ein Mädchen, und ein anderes sagte: »Nasse Schürzen.«
    Haarnetze. Wabbelige Arme. Bibelzitate. »Danny Boy.«
    Eve sagte immer: »Ihre Hühneraugen.«
    Sie hatte bis vor kurzem dieses Spiel völlig vergessen. Daran jetzt zu denken

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