Die Liebe einer Frau
Erinnerungen. Immer wenn die mit Eve gemeinsam verbrachte Vergangenheit zur Sprache kam – sogar jene Monate nach Philips Geburt, die Eve mit für die glücklichsten, schwersten, sinnerfülltesten und harmonischsten in ihrem Leben hielt –, nahm Sophies Gesicht einen Ausdruck von Ernst und Verschwiegenheit an, von geduldig zurückgehaltener Verdammung. Die Zeit noch davor, Sophies eigene Kindheit, war ein regelrechtes Minenfeld, wie Eve entdeckte, als sie über Philips Schule redeten. Sophie fand sie ein wenig zu streng, und Ian fand sie gerade richtig.
»Welch ein Gegensatz zur Amsel«, sagte Eve, und Sophie sagte sofort, fast bösartig: »Ach, die Amsel. Ein schlechter Witz. Wenn ich daran denke, dass du dafür Schulgeld bezahlt hast. Du hast dafür Geld ausgegeben.«
Die Amsel war eine alternative Schule ohne Zensuren, die Sophie besucht hatte (der Name kam von dem Lied »Alle Vögel sind schon da«). Sie hatte Eve mehr gekostet, als sie sich leisten konnte, aber sie fand diese Schule besser für ein Kind, dessen Mutter sich als Schauspielerin durchschlug und dessen Vater nicht in Erscheinung trat. Als Sophie neun oder zehn Jahre alt war, hatte sich die Schule aufgrund von Meinungsverschiedenheiten unter den Eltern aufgelöst.
»Ich habe griechische Sagen gelernt und wusste nicht, wo Griechenland liegt«, sagte Sophie. »Ich wusste nicht mal, was das ist. Im Kunstunterricht mussten wir Schilder gegen Atomwaffen malen.«
Eve sagte: »Also das glaube ich nicht.«
»Doch. Und sie haben uns regelrecht dazu vergattert, jawohl, dazu vergattert, über Sex zu reden. Das war verbale Belästigung. Und dafür hast du Geld ausgegeben.«
»Ich wusste nicht, dass es so schlimm war.«
»Was soll’s«, sagte Sophie. »Ich hab’s überlebt.«
»Das ist die Hauptsache«, sagte Eve unsicher. »Überleben.«
Sophies Vater kam aus Kerala, im Süden von Indien. Eve hatte ihn in einem Zug von Vancouver nach Toronto kennengelernt und die ganze Fahrt mit ihm verbracht. Er war ein junger Arzt, der in Kanada mit einem Stipendium studierte. Er hatte schon eine Frau und eine kleine Tochter, zu Hause in Indien.
Die Zugfahrt dauerte drei Tage. In Calgary gab es einen halbstündigen Aufenthalt. Eve und der Arzt rannten herum und suchten einen Drugstore, wo sie Kondome kaufen konnten. Sie fanden keinen. Als sie in Winnipeg ankamen, wo der Zug eine ganze Stunde lang hielt, war es zu spät. Wahrscheinlich – sagte Eve, wenn sie die Geschichte erzählte – war es bereits zu spät, als sie die Stadtgrenze von Calgary erreichten.
Er reiste in einem normalen Abteil – das Stipendium war nicht üppig. Eve hatte geprasst und sich ein Schlafwagenabteil Erster Klasse geleistet. Es war dieser Luxus – eine Entscheidung, die sie in letzter Minute getroffen hatte –, es waren der Komfort und die Ungestörtheit des Einbettabteils, die, sagte Eve, verantwortlich waren für Sophies Existenz und die größte Veränderung in ihrem Leben. Dies und die Tatsache, dass es nirgendwo beim Bahnhof von Calgary Kondome zu kaufen gab, weder für Geld noch für gute Worte.
In Toronto winkte sie ihrem Liebhaber aus Kerala zum Abschied zu, wie man irgendeiner Reisebekanntschaft zuwinkt, denn sie wurde dort von dem Mann abgeholt, der zu der Zeit in ihrem Leben die Hauptrolle spielte und ihr größtes Problem war. Die gesamten drei Tage waren vom Schaukeln und Schwanken des Zuges begleitet worden – die Bewegungen der Liebenden waren nie nur das, was sie selbst zustandebrachten, und schienen vielleicht aus diesem Grund unschuldig, unwiderstehlich zu sein. Ihre Gefühle und Gespräche mussten auch davon beeinflusst worden sein. Eve erinnerte sie als sanft und hochherzig, nie ernst oder verbissen. Es wäre auch schwergefallen, ernst zu bleiben, wenn man mit der Enge und den Ecken und Kanten eines Einbettabteils zu kämpfen hatte.
Sie nannte Sophie seinen Vornamen – Thomas, nach dem Heiligen. Eve hatte, bevor sie ihn kennenlernte, nie davon gehört, dass es in Südindien von alters her Christen gab. Mit fünfzehn, sechzehn interessierte sich Sophie eine Weile lang für Kerala. Sie holte sich Bücher aus der Stadtbücherei und gewöhnte sich an, im Sari auf Partys zu gehen. Sie redete davon, später, wenn sie älter war, ihren Vater aufzusuchen. Die Tatsache, dass sie seinen Vornamen und sein Spezialgebiet – Blutkrankheiten – wusste, schien ihr dafür ausreichend. Eve betonte ihr gegenüber den Bevölkerungsreichtum Indiens und die Möglichkeit,
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