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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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dass er nicht dort geblieben war. Sie brachte es jedoch nicht übers Herz, ihr zu erklären, wie zufällig, wie nahezu unvorstellbar Sophies Existenz im Leben ihres Vaters sein musste. Zum Glück verblasste die Idee, und Sophie gab es auf, einen Sari zu tragen, als solche theatralischen ethnischen Kostüme zu sehr in Mode gerieten. Sie sprach nie mehr von ihrem Vater, nur noch einmal in Anspielungen, als sie mit Philip schwanger war und Witze darüber machte, wie sie die Familientradition der kometenhaft auftauchenden und verschwindenden Väter aufrechterhielt.
     
    Jetzt nichts mehr von solchen Witzen. Sophie war stattlich, fraulich, würdevoll und zurückhaltend geworden. Es hatte einen Augenblick gegeben – sie waren auf dem Weg durch den Wald zum Strand, und Sophie hatte sich gebückt, um Daisy auf den Arm zu nehmen, damit sie schneller aus der Reichweite der Mücken gelangten –, da war Eve tief beeindruckt gewesen von der neuen, späten Schönheit ihrer Tochter. Eine füllige, gelassene, klassische Schönheit, nicht durch Pflege und Eitelkeit hervorgerufen, sondern durch Selbstvergessenheit und Pflichterfüllung. Sie sah jetzt indischer aus, ihre Milchkaffeehaut war unter der kalifornischen Sonne nachgedunkelt, und unter den Augen trug sie die violetten Halbmonde ständiger leichter Übermüdung.
    Aber sie war immer noch eine kräftige Schwimmerin. Schwimmen war der einzige Sport, den sie je gemocht hatte, und sie schwamm so gut wie immer, strebte offenbar bis in die Mitte des Sees. Am ersten Tag, an dem sie das getan hatte, sagte sie: »Das war wundervoll. Ich habe mich so frei gefühlt.« Sie sagte nicht, sie habe sich so gefühlt, weil Eve auf die Kinder aufpasste, aber Eve verstand, dass das nicht gesagt zu werden brauchte. »Das freut mich«, sagte sie – obwohl sie in Wirklichkeit Angst gehabt hatte. Mehrere Male hatte sie gedacht: Dreh jetzt um, doch Sophie war weitergeschwommen, ohne die dringende telepathische Botschaft zu beachten. Ihr dunkler Kopf wurde ein Fleck, dann ein Pünktchen, dann ein Trugbild, das auf den gleichmäßigen Wellen tanzte. Was Eve befürchtete und woran sie nicht zu denken wagte, war nicht das Versiegen ihrer Kraft, sondern ihres Wunsches, zurückzukehren. Als könnte dieser neuen Sophie, dieser erwachsenen Frau, das Leben, an das sie so gefesselt war, in Wahrheit gleichgültiger sein als dem Mädchen, das Eve gekannt hatte, der jungen Sophie mit ihren zahlreichen Wagnissen und Liebesabenteuern und Dramen.
     
    »Wir müssen den Film in den Laden zurückbringen«, sagte Eve zu Philip. »Vielleicht sollten wir das tun, bevor wir an den Strand gehen.«
    Philip sagte: »Den Strand hab ich satt.«
    Eve war nicht danach zumute, ihm zu widersprechen. Da Sophie fort war, da alle Pläne geändert waren, sodass sie abreisten, alle noch am selben Tag abreisten, hatte sie den Strand auch satt. Und das Haus dazu – jetzt konnte sie sich nur noch vorstellen, wie dieses Zimmer morgen aussehen würde. Die Buntstifte, die Spielzeugautos, die großen Teile von Daisys einfachem Puzzle, alle aufgesammelt und weg. Die Märchenbücher, die sie auswendig kannte, fort. Keine Bettwäsche mehr, die draußen vor dem Fenster trocknete. Achtzehn Tage, die noch vor ihr lagen, ganz allein in diesem Haus.
    »Wie wär’s, wenn wir heute woandershin fahren?«, fragte sie.
    Philip fragte: »Wo ist woanders?«
    »Das wird eine Überraschung.«
     
    Eve war am Tag zuvor mit Vorräten beladen nach Hause gekommen. Frische Shrimps für Sophie – der Dorfladen hatte sich inzwischen zu einem erstklassigen Supermarkt gemausert, man bekam fast alles –, Kaffee, Wein, Roggenbrot ohne Kümmel, denn Philip konnte Kümmel nicht ausstehen, eine reife Melone, die dunklen Kirschen, die sie alle liebten, obwohl man bei Daisy mit den Kernen aufpassen musste, eine Großpackung Mokkasahneeiscreme und alle sonstigen Lebensmittel, die sie brauchten, um eine Woche lang auszukommen.
    Sophie wusch gerade das Geschirr vom Mittagessen der Kinder ab. »Um Himmels willen«, rief sie aus. »Was sollen wir bloß mit dem ganzen Zeug?«
    Ian hatte angerufen, sagte sie. Ian hatte angerufen und gesagt, dass er morgen nach Toronto flog. Die Arbeit an seinem Buch war schneller als erwartet vorangegangen; er hatte seine Pläne geändert. Statt zu warten, bis die drei Wochen um waren, kam er morgen, um Sophie und die Kinder abzuholen und mit ihnen eine kleine Reise zu machen. Er wollte nach Quebec City. Er war noch nie dort gewesen, und er

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