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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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vorwarf, sondern wegen der zu Anfang des Jahrhunderts neu eingerichteten Maultierstraßenbahn, die für ihn ein gefundenes Nest für flügge Vögelinnen war. Er nahm die Straßenbahn viermal täglich, zweimal, um ins Büro, und zweimal, um zurück nach Hause zu fahren, und es gelang ihm, während er zuweilen wirklich las, meistens aber nur zu lesen vorgab, zumindest erste Kontakte für eine spätere Verabredung herzustellen. Als sein Onkel Leon XII. ihm viel später eine Kutsche zur Verfügung stellte, die von zwei hellbraunen Maultieren mit vergoldeten Schabracken gezogen wurde, ganz ähnlich denen des Präsidenten Rafael Nunez, sollte er sich nach den Zeiten der Straßenbahn zurücksehnen, waren es doch für seine Streifzüge als Falkner die fruchtbarsten gewesen. Er hatte recht: Es gab keinen ärgeren Feind heimlicher Liebschaften als eine Kutsche, die vor der Tür wartete. Also ließ er seine fast immer bei sich zu Hause versteckt stehen und ging zu Fuß auf Vogelfang, damit nicht einmal die Furchen der Räder im Staub von seinen Streifzügen zurückblieben. Deshalb dachte er mit so viel Wehmut an die von den schäbigen und aufgescheuerten Maultieren gezogene Straßenbahn, in der schon ein verstohlener Blick genügte, um zu wissen, wo Liebe zu finden war. Zwischen den vielen bewegenden Erinnerungen konnte er jedoch die an ein schutzloses Vögelchen nicht verdrängen, dessen Namen er nicht kannte und mit dem zusammen er nicht mehr als eine halbe wilde Nacht verlebt hatte, genug aber, um ihm für den Rest seines Lebens das unschuldige Durcheinander des Karnevals zu vergällen.
    Sie war ihm in der Straßenbahn aufgefallen, weil sie ganz unbeirrt vom Lärm des Volksfestes wirkte. Sie konnte nicht älter als zwanzig sein und war offenbar nicht in Karnevalsstimmung, es sei denn, sie hätte eine Invalidin darstellen wollen. Sie hatte sehr helles, langes, glattes Haar, das ihr lose über die Schultern fiel, und trug ein Hängerkleid aus einfachem Leinen ohne jegliche Verzierung. Sie wirkte teilnahmslos inmitten der Straßenmusik, des händeweise in die Luft geworfenen Reispuders und all der Farbspritzen, die auch die Fahrgäste in der vorbeifahrenden Straßenbahn beklecksten, während die Maultiere, in jenen drei tollen Tagen mit Blumenhüten geschmückt, von Stärkemehl weiß eingestäubt waren. Florentino Ariza nutzte den Trubel aus und lud sie zu einem Eis ein, da er glaubte, mehr sei bei ihr nicht drin. Sie sah ihn an und war nicht überrascht. »Ich nehme das sehr gerne an, aber ich warne Sie, ich bin verrückt.« Er lachte über den Einfall und nahm sie auf den Balkon des Eisladens mit, um den Zug der Karnevalskarossen zu sehen. Dann setzte er sich eine Kapuze aus dem Leihhaus auf, und sie mischten sich unter die Tanzenden auf der Plaza del la Aduana, und beide hatten ihre Freude miteinander wie ein frischgeborenes Pärchen, denn im Getöse der Nacht schlug ihre Gleichgültigkeit ins Gegenteil um: Sie tanzte, als sei das ihr Beruf, war kühn und voller Einfalle beim Feiern und von hinreißendem Zauber.
    »Du weißt ja nicht, auf was du dich mit mir eingelassen hast«, schrie sie und schüttete sich im Fieber des Karnevals vor Lachen aus. »Ich bin eine Irre aus der Klapsmühle.« Für Florentino Ariza bedeutete jene Nacht eine Rückkehr zu den unschuldigen Ausschweifungen seiner Jünglingsjahre, als die Liebe ihn noch nicht unglücklich gemacht hatte. Doch er wußte, mehr durch abschreckende Beispiele denn aus eigener Erfahrung, daß ein so müheloses Glück nicht von Dauer sein konnte. Bevor also der Trubel nachließ, wie stets nach der Prämierung der besten Kostüme, schlug er dem Mädchen vor, gemeinsam den Tagesanbruch vom Leuchtturm aus zu betrachten. Sie ging freudig darauf ein, wollte aber die Preisverleihung abwarten.
    Florentino Ariza blieb die Gewißheit, daß diese Verzögerung ihm das Leben gerettet hatte. Tatsächlich gab das Mädchen ihm gerade ein Zeichen für den Aufbruch zum Leuchtturm, als zwei Wärter und eine Krankenschwester des Irrenhauses Divina Pastora sie ergriffen. Sie suchten sie schon seit drei Uhr nachmittags, als sie ausgebrochen war, und alle Ordnungskräfte suchten mit. Sie hatte einem Wärter die Kehle durchschnitten und zwei weitere mit einer Machete, die sie dem Gärtner abgenommen hatte, schwer verletzt, denn sie wollte zum Karnevalstanz. Niemand war aber darauf gekommen, daß sie beim Tanzen auf der Straße sein könne und nicht in irgendeinem der vielen Häuser versteckt, die

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