Die Liebe in den Zeiten der Cholera
kehrte er zurück in sein Büro, niedergedrückt von der Gewißheit, keinerlei Lösung für so viele Probleme gefunden zu haben, sondern vielmehr neue und vielfältige Probleme für keine Lösung. Am Tag darauf fand Florentino Ariza, als er in sein Büro kam, ein Memorandum von Leona Cassiani vor mit der inständigen Bitte, er möge es durchlesen und, falls es ihm angezeigt erscheine, an seinen Onkel weiterleiten. Sie war die einzige, die während der Inspektion am vergangenen Nachmittag kein Wort gesagt hatte. Sie hatte sich bewußt so verhalten, wie es ihrer untergeordneten Stellung entsprach, wies jedoch in ihrem Memorandum darauf hin, daß sie es nicht aus Desinteresse getan habe, sondern aus Achtung vor der Hierarchie in der Abteilung. Das Memorandum war von beunruhigender Einfachheit. Onkel Leon XII. hatte sich eine grundlegende Neuorganisation vorgenommen, Leona Cassiani dagegen dachte in die umgekehrte Richtung, da sie von der simplen Logik ausging, daß die Allgemeine Abteilung nicht eigentlich existierte: Sie war der Papierkorb für verwickelte, aber unbedeutende Probleme, die sich die anderen Abteilungen vom Hals schafften. Die Lösung war demzufolge, die Allgemeine Abteilung aufzulösen und die Probleme an die Abteilungen, aus denen sie kamen, zurückzuleiten, damit sie dort erledigt würden.
Onkel Leon XII. wußte nicht einmal, wer Leona Cassiani war, und konnte sich nicht erinnern, bei der Versammlung am vergangenen Nachmittag jemanden gesehen zu haben, der sie hätte sein können, als er aber das Memorandum gelesen hatte, ließ er sie in sein Büro kommen und redete zwei Stunden lang hinter verschlossenen Türen mit ihr. Sie sprachen über alles mögliche, denn das war seine Methode, Leute kennenzulernen. Das Memorandum war ein Zeugnis gesunden Menschenverstandes, und die vorgeschlagene Lösung brachte dann tatsächlich das gewünschte Ergebnis. Doch Onkel Leon XII. interessierte nicht das, er interessierte sich für Leona Cassiani. Besonders bemerkenswert erschien ihm, daß sie nach der Primarschule als einzige Ausbildung die Hutmacherschule besucht hatte. Außerdem lernte sie gerade daheim nach einer Schnellmethode im Selbstunterricht Englisch und nahm seit drei Monaten abends Stunden in Maschineschreiben, ein neuer, zukunftsträchtiger Beruf, wie es zuvor von der Telegraphie und noch früher bei der Dampfmaschine gesagt worden war.
Als sie nach dem Gespräch das Büro verließ, hatte Onkel Leon XII. schon begonnen, sie so zu nennen, wie er sie nun immer nennen sollte: Namensvetterin Leona. Er beschloß, die konfliktreiche Abteilung mit einem Federstrich zu löschen und die Probleme zu verteilen, damit sie, Leona Cassianis Vorschlag entsprechend, von denen gelöst würden, die sie erzeugten. Für sie erfand er einen Posten, der keinen Namen und keine spezifischen Funktionen hatte, praktisch aber der einer persönlichen Assistentin war. An jenem Nachmittag, nachdem die Allgemeine Abteilung sang- und klanglos beerdigt worden war, fragte Onkel Leon XII. seinen Neffen, wo er denn Leona Cassiani aufgetrieben habe, und dieser antwortete wahrheitsgemäß.
»Dann steig wieder in die Straßenbahn und bring mir alle her, die du von dieser Sorte findest«, sagte der Onkel, »zwei oder drei mehr, und wir heben deine Galeone.« Florentino Ariza hatte das als einen der für seinen Onkel Leon XII. typischen Scherze angesehen, am nächsten Tag jedoch war die Kutsche weg, die man ihm sechs Monate zuvor zugeteilt hatte und die man ihm jetzt nahm, damit er in der Straßenbahn weiter nach verborgenen Talenten suche. Leona Cassiani legte ihrerseits sehr bald die anfänglichen Skrupel ab und holte alles aus sich heraus, was sie mit so viel List in den ersten drei Jahren verborgen gehalten hatte. Nach drei weiteren Jahren hatte sie alles unter Kontrolle, und in den vier darauffolgenden gelangte sie bis vor die Tür der Geschäftsführung, weigerte sich jedoch, dort einzutreten, weil sie gerade noch eine Stufe unter Florentino Ariza stand. Bis dahin war sie an seine Weisungen gebunden gewesen und wollte das auch weiterhin sein, obwohl es in Wirklichkeit anders aussah: Florentino Ariza selbst bemerkte nie, daß er ihre Anweisungen befolgte. Und doch war es so: Er richtete sich einfach nach dem, was sie vorschlug, um ihm zu helfen, die Fallen seiner verborgenen Feinde in der Generaldirektion zu umgehen.
Leona Cassiani hatte ein teuflisches Talent, Geheimnisse auszunutzen, und war immer im rechten Augenblick am rechten
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