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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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gerade bei seiner täglichen zehnminütigen Siesta im gefederten Schreibtischsessel eingeschlafen war. Florentino Ariza bat Doktor Juvenal Urbino, doch so lange in seinem Büro zu warten, das mit dem von Onkel Leon verbunden war und gewissermaßen als Vorzimmer diente. Sie hatten sich bei verschiedenen Gelegenheiten gesehen, aber nie einander so gegenüber gesessen, und Florentino Ariza verspürte wieder einmal den Selbstekel dessen, der sich minderwertig fühlt. Es waren zehn endlose Minuten, und er stand dreimal in der Hoffnung auf, der Onkel sei vor der Zeit aufgewacht, und trank inzwischen eine ganze Thermosflasche schwarzen Kaffees leer. Doktor Urbino nahm nicht eine einzige Tasse an. Er sagte: »Kaffee ist Gift.« Und plaudernd knüpfte er ein Thema an das andere, ohne sich überhaupt darum zu kümmern, ob man ihm zuhörte. Die natürliche Vornehmheit Doktor Urbinos war Florentino Ariza ebenso unerträglich wie der Fluß und die Treffsicherheit seiner Worte, der verborgene Hauch von Kampfer, der ihn umgab, sein persönlicher Charme, die leichte und elegante Art, mit der er noch die oberflächlichsten Sätze, nur dadurch, daß er sie aussprach, wesentlich erscheinen ließ. Auf einmal wechselte der Arzt abrupt das Thema. »Lieben Sie Musik?«
    Er traf Florentino Ariza unvorbereitet. Tatsächlich ging dieser zu jedem Konzert und jeder Opernvorstellung, die in der Stadt gegeben wurden, fühlte sich aber nicht in der Lage, ein kritisches oder wohlinformiertes Gespräch darüber zu führen. Ihm ging die Musik ins Blut, die gerade Mode war, besonders die sentimentalen Walzer, deren Ähnlichkeit mit denen, die er selbst als Jüngling komponiert hatte, oder auch mit seinen heimlichen Versen unbestreitbar war. Er brauchte die Walzer nur einmal im Vorbeigehen zu hören, und dann gab es nächtelang keine Himmelsmacht mehr, die ihm den Ohrwurm aus dem Kopf hätte bringen können. Aber das wäre keine ernsthafte Antwort auf die ernsthafte Frage eines Kenners gewesen. »Ich liebe Gardel«, sagte er.
    Doktor Urbino begriff. »Ich verstehe«, sagte er, »der ist jetzt modern.« Und er wich auf eine Aufzählung seiner neuen, zahlreichen Projekte aus, die wie immer ohne öffentliche Gelder durchgeführt werden mußten. Er wies ihn auf die im Vergleich zu den glanzvollen Stücken des vergangenen Jahrhunderts nunmehr quälende Minderwertigkeit der Schauspiele hin, die man jetzt noch anbieten könnte. Tatsächlich verkaufe er nun schon ein ganzes Jahr lang Abonnements, um das Trio Cortot-Casals-Thibaud ins Teatro de la Comedia zu bringen, aber in der Regierung gäbe es keinen einzigen, der wisse, wer das sei, während jedoch gerade in diesem Monat die Aufführungen von Kriminalstücken der Theaterkompanie Ramon Carralt ausverkauft seien, ebenso die Vorstellung der Kompanie für Operetten und Zarzuelas von Don Manolo de la Presa und die Santanelas, unsägliche mimisch-phantastische Verwandlungskünstler, die bei einem phosphoreszierenden Blitz die Kleider auf der Bühne wechselten. Danyse D'Altaine, die sich als ehemalige Tänzerin der Folies Bergere ausgäbe, habe ebenfalls ein volles Theater, wie auch der gräßliche Ursus, ein baskischer Kraftmensch, der mit einem Kampfstier Leib an Leib rang. Man durfte sich allerdings nicht beklagen, denn schließlich waren es die Europäer selbst, die wieder einmal das schlechte Beispiel eines barbarischen Krieges gaben, gerade als wir in Frieden zu leben begannen nach neun Bürgerkriegen in einem halben Jahrhundert, die bei genauer Rechnung auch ein einziger hätten sein können: immer derselbe. Was Florentino Ariza an jener gewinnenden Rede am meisten aufhorchen ließ, war die Aussicht, daß die von Juvenal Urbino einst initiierten Blumenspiele, die viele Jahre lang mit größter Resonanz stattgefunden hatten, wieder belebt werden könnten. Er mußte sich auf die Zunge beißen, um ihm nicht zu erzählen, daß er regelmäßig an jenem jährlichen Wettbewerb teilgenommen hatte, der selbst das Interesse von namhaften Dichtern aus dem ganzen Land und sogar aus anderen Ländern der Karibik geweckt hatte. Die Unterhaltung war eben in Gang gekommen, als die dampfend heiße Luft plötzlich abkühlte und Orkanböen aus wechselnden Richtungen Türen und Fenster schüttelten und knallen ließen, und das Büro ächzte wie ein Segelschiff im Sturm. Doktor Juvenal Urbino schien es nicht wahrzunehmen. Er machte irgendeine beiläufige Bemerkung über die launischen Juni-Zyklone und sprach plötzlich

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