Die Liebe in den Zeiten der Cholera
wie ihr Leben verstrich, und auch sein eigenes, während er nichts tat, als zu warten. Nie hatte er irgend jemandem von ihr erzählt, denn er wußte, daß er nicht in der Lage war, ihren Namen auszusprechen, ohne daß seine Lippen für alle sichtbar erbleichten. In jener Nacht aber, als er wie an so vielen Nachmittagen sonntäglicher Langeweile die Alben durchblätterte, landete Sara Noriega einen jener zufälligen Treffer, die das Blut gefrieren ließen. »Sie ist eine Hure«, sagte sie.
Sie sagte es im Vorbeigehen, als sie auf einem Bild Fermina Daza im Kostüm eines schwarzen Panthers auf einem Maskenball sah, und sie mußte keinen Namen nennen, Florentino Ariza wußte, wer gemeint war. Eine Enthüllung befürchtend, die ihn fürs Leben um den Verstand bringen würde, beeilte sich Florentino Ariza, eine behutsame Verteidigung vorzubringen. Er bemerkte, daß er Fermina Daza nicht näher kenne, da er nie über die förmlichen Begrüßungen hinausgelangt sei, auch keinerlei Kenntnis von ihrem Privatleben habe, sie aber für eine bewunderungswürdige Frau halte, die, aus dem Nichts aufgestiegen, dank eigener Verdienste geadelt sei.
»Dank einer Vernunftehe mit einem Mann, den sie nicht liebt«, unterbrach ihn Sara Noriega. »Das sind die erbärmlichsten Huren.«
Weniger krude, doch mit der gleichen moralischen Strenge hatte Florentino Ariza das schon von seiner Mutter zu hören bekommen, als diese versucht hatte, ihn über sein Unglück hinwegzutrösten. Im Mark getroffen, fiel ihm keine passende Entgegnung auf Sara Noriegas Gnadenlosigkeit ein, und er versuchte, dem Thema zu entrinnen. Doch Sara Noriega ließ nicht locker, bis sie sich alles, was sie gegen Fermina Daza hatte, von der Seele geredet hatte. Durch einen Blitz der Intuition, den sie nicht hätte erklären können, war sie davon überzeugt, daß diese Frau die Drahtzieherin der Verschwörung war, die sie um den Preis gebracht hatte. Es gab keinerlei Grund für diese Annahme: Sie kannten sich nicht, sie waren sich nie begegnet, und Fermina Daza hatte keinen Einfluß auf den Wettbewerb, wenngleich sie über die Geheimnisse der Entscheidungsfindung informiert war. Sara Noriega sagte abschließend: »Wir Frauen haben den sechsten Sinn.« Und beendete damit den Wortwechsel. Von diesem Augenblick an sah Florentino Ariza sie mit anderen Augen. Auch für sie gingen die Jahre dahin. Ihre Üppigkeit welkte ohne Glanz, sie vertrödelte ihre Liebe mit Geschluchze, und auf ihren Lidern begannen sich die Schatten alter Bitterkeit abzuzeichnen. Sie war eine Blume von gestern. Außerdem hatte sie im Zorn der Niederlage den Überblick über die getrunkenen Brandys verloren. Sie war in dieser Nacht nicht in Form. Während sie den aufgewärmten Kokosreis aßen, versuchte sie auseinanderzuklauben, wie groß ihr jeweiliger Beitrag zu dem durchgefallenen Gedicht gewesen war, um festzustellen, wie viele Blütenblätter der Goldenen Orchidee jedem von ihnen zugestanden hätten. Es war nicht das erste Mal, daß sie sich mit Wettbewerben in Haarspalterei die Zeit vertrieben, doch er nützte diese Gelegenheit, um die gerade erfahrene Kränkung auszuleben, und sie verstrickten sich in einen kleinlichen Streit, der allen Groll aus fast fünf Jahren geteilter Liebe wieder aufwühlte. Als noch zehn Minuten bis Mitternacht fehlten, stieg Sara Noriega auf einen Stuhl, um die Pendeluhr aufzuziehen. Sie stellte die Uhr nach Gefühl, vielleicht, weil sie ihm indirekt zu verstehen geben wollte, daß es Zeit war zu gehen. Da verspürte Florentino Ariza das dringende Bedürfnis, diese Beziehung mit einem klaren Schnitt zu beenden, und suchte nur noch nach einer Gelegenheit, selbst die Initiative ergreifen zu können, so wie es immer sein Bestreben war. Er flehte zu Gott, daß Sara Noriega ihn dazu aufforderte, in ihrem Bett zu bleiben, um ihr dann zu sagen, nein, zwischen ihnen sei alles zu Ende. Er bat sie, sich zu ihm zu setzen, als sie die Uhr fertig aufgezogen hatte. Sie ließ sich jedoch lieber im Besuchersessel nieder, um auf Distanz zu bleiben. Florentino Ariza hielt ihr daraufhin den in Brandy getauchten Zeigefinger hin, damit sie ihn ablutschte, wie sie es zu anderen Zeiten beim Vorspiel gern getan hatte. Sie wich ihm aus. »Nicht jetzt«, sagte sie. »Ich erwarte Besuch.« Seit er von Fermina Daza abgewiesen worden war, hatte Florentino Ariza gelernt, sich immer die letzte Entscheidung vorzubehalten. Unter weniger bitteren Umständen hätte er Sara Noriega weiter beharrlich
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