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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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nahen spürte, seiner Frau hastig versicherte: »Mach dir keine Sorgen, Liebes, es war meine Schuld.« Denn nichts fürchtete er so sehr wie die plötzlichen und endgültigen Entscheidungen seiner Frau, und er war überzeugt davon, daß sie immer einem Schuldgefühl entsprangen. Ihre Verstörung darüber, Florentino Ariza abgewiesen zu haben, konnte jedoch nicht mit einer tröstenden Phrase aufgehoben werden. Noch mehrere Monate lang vermißte Fermina Daza beim Öffnen des Balkonfensters das einsame Gespenst, das ihr auf dem leeren kleinen Platz aufgelauert hatte, sie sah zu dem Baum, der der seine gewesen war, auf die verborgenste Bank, auf die er sich zum Lesen hingesetzt, wo er an sie gedacht, um sie gelitten hatte, und mußte dann mit einem Seufzer das Fenster wieder schließen: »Der arme Mann.« Sie litt sogar unter der Enttäuschung, daß er nicht so beharrlich war, wie sie erwartet hatte, aber da war es schon zu spät, etwas an der Vergangenheit zu ändern, und so spürte sie zuweilen auch die verspätete Sehnsucht nach einem Brief, der nie ankam. Als sie dann vor der Entscheidung stand, Juvenal Urbino zu heiraten, geriet sie in eine schwerere Krise, da ihr klar wurde, das sie keine triftigen Gründe hatte, ihn vorzuziehen, nachdem sie ohne triftige Gründe Florentino Ariza abgewiesen hatte. In Wirklichkeit liebte sie den Arzt sowenig wie den frühen Verlobten, kannte ihn im übrigen längst nicht so gut, und auch seine Briefe waren nicht so fiebrig wie die des anderen, noch hatte er ihr so viele anrührende Beweise seiner Entschlossenheit gegeben. In Wahrheit hatte Juvenal Urbino nie im Namen der Liebe um sie geworben, und es war zumindest merkwürdig, daß ein praktizierender Katholik wie er ihr nur irdische Güter anbot: Sicherheit, Ordnung, Glück - Posten, die, zusammengezählt, als Summe vielleicht der Liebe ähnelten: fast der Liebe. Aber Liebe war es nicht, und diese Zweifel verstärkten ihre Verwirrung, denn andererseits war sie sich auch nicht sicher, ob es wirklich die Liebe war, die sie am nötigsten zum Leben brauchte.
    Am meisten sprach gegen Doktor Urbino auf alle Fälle seine mehr als verdächtige Ähnlichkeit mit dem Traumprinzen, den Lorenzo Daza sich so sehnlichst für seine Tochter wünschte. Es war unmöglich, ihn nicht als die Kreatur einer väterlichen Verschwörung anzusehen, auch wenn er es in Wirklichkeit nicht war. Fermina Daza hielt ihn jedenfalls dafür, nachdem sie ihn zum zweitenmal zu einem nicht bestellten Arztbesuch das Haus hatte betreten sehen. Die Gespräche mit der Kusine Hildebranda verwirrten sie vollends. Da diese selbst in der Situation des Opfers war, neigte sie dazu, sich mit Florentino Ariza zu identifizieren, und vergaß dabei sogar, daß Lorenzo Daza sie womöglich nur hatte kommen lassen, damit sie ihren Einfluß zugunsten von Doktor Urbino geltend machte. Gott wußte, wie schwer es Fermina Daza fiel, ihre Kusine nicht zu begleiten, als diese zum Telegraphenamt ging, um Florentino Arizas Bekanntschaft zu machen. Auch sie hätte ihn gern noch einmal gesehen, um ihn mit ihren Zweifeln zu konfrontieren, mit ihm unter vier Augen zu reden, ihn gründlich kennenzulernen, um sicherzugehen, daß ihre impulsive Entscheidung damals sie nicht in eine noch folgenschwerere stürzen würde, nämlich die Kapitulation in ihrem Privatkrieg mit dem Vater. Doch im entscheidenden Augenblick ihres Lebens legte sie sich dann fest, nicht weil sie in irgendeiner Weise die männliche Schönheit des Verehrers, noch seinen legendären Reichtum oder seinen frühen Ruhm oder sonst irgendeines seiner realen Verdienste in Betracht zog, sondern von der Angst getrieben war, angesichts dieser unwiederbringlichen Gelegenheit und ihres heranrückenden einundzwanzigsten Geburtstags, den sie sich insgeheim als Grenze gesetzt hatte, um sich danach dem Schicksal zu ergeben. Eine Minute genügte ihr, um die Entscheidung zu treffen, wie es in den Gesetzen Gottes und der Menschen vorgesehen war: bis zum Tode. Dann verflüchtigten sich alle Zweifel, und sie konnte ohne Gewissensbisse das tun, was die Vernunft ihr als das Anständigste empfahl: Ohne Tränen wischte sie die Erinnerung an Florentino Ariza aus, löschte sie vollständig und ließ dann in dem Raum, den dieser Mann in ihrer Erinnerung eingenommen hatte, eine Mohnwiese erblühen. Alles, was sie sich zugestand, war ein Seufzer, tiefer als gewöhnlich, der letzte: »Der arme Mann!« Die ärgsten Zweifel setzten jedoch ein, als sie von der

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