Die Liebe in den Zeiten der Cholera
zu stellen, ob das alles etwas mit ihm zu tun habe. Denn der einzige Bezugspunkt in seiner Vergangenheit war die ephemere Liebesgeschichte mit Fermina Daza, und nur was mit ihr zu tun hatte, tauchte in der Buchführung seines Lebens auf. So ging er an dem Nachmittag, als er die Schwalben auf den Stromleitungen sah, seine Vergangenheit durch, fing bei seinen ältesten Erinnerungen an, ließ seine Gelegenheitsliebschaften Revue passieren, gedachte der unzähligen Klippen, die er hatte umschiffen müssen, um die Führungsposition zu erreichen, der unsäglichen Zwischenfälle, vor die ihn seine verbissene Entschlossenheit gestellt hatte, Fermina Daza zu der Seinen und sich zu dem Ihren zu machen, ohne Rücksicht und gegen jeden Widerstand, und erst da entdeckte er, daß sein Leben verging. Ein Schüttelfrost tief aus den Eingeweiden ließ ihn erschauern und nahm ihm die Besinnung, so daß er die Gartengeräte fallen lassen und sich an die Friedhofsmauer lehnen mußte, um nicht vom ersten Prankenschlag des Alters niedergestreckt zu werden. »Verdammt«, rief er entsetzt, »das ist alles dreißig Jahre her!« So war es. Dreißig Jahre, die natürlich auch für Fermina Daza vergangen waren, für sie aber die angenehmsten und konstruktivsten ihres Lebens gewesen waren. Die Tage des Grauens im Palais Casalduero hatte sie in den Abfalleimer der Erinnerung geworfen. Sie lebte, ganz Herrin ihres Schicksals, in ihrem neuen Haus in La Manga, zusammen mit einem Mann, den sie, vor die Wahl gestellt, wieder allen anderen Männern der Welt vorgezogen hätte, mit einem Sohn, der die Familientradition am Medizinischen Institut fortsetzte, und einer Tochter, die ihr selbst im selben Alter so sehr glich, daß der Eindruck, sich wiederholt zu sehen, sie manchmal beunruhigte. Dreimal war sie nach Europa gefahren seit jener unglückseligen Reise, von der sie niemals hatte zurückkehren wollen, um nicht in ständigem Grauen zu leben.
Gott mußte damals jemandes Gebet endlich erhört haben: Nach zwei Jahren Aufenthalt in Paris, als Fermina Daza und Juvenal Urbino gerade erst begonnen hatten, die Überreste ihrer Liebe aus den Trümmern zu bergen, weckte sie um Mitternacht ein Telegramm mit der Nachricht, Doña Bianca de Urbino sei schwer erkrankt, und dieses Telegramm wurde fast von dem folgenden mit der Todesnachricht eingeholt. Sie kehrten sofort zurück. Fermina Daza verließ das Schiff in einem Trauergewand, dessen weiter Schnitt ihren Zustand nicht verbergen konnte. Sie war tatsächlich wieder schwanger, und diese Neuigkeit war Anlaß für einen Gassenhauer, dessen Refrain den Rest des Jahres über in aller Munde war: »Was wartet auf die Schöne wohl in Paris, daß sie stets guter Hoffnung heimkehrt.« Trotz des anzüglichen Textes ließ Doktor Juvenal Urbino noch Jahre später das Lied bei Festen des Club Social spielen, um seinen Sinn für Humor unter Beweis zu stellen.
Das noble Palais jenes Marques de Casalduero, von dessen Leben und Wappen es niemals sichere Kunde gegeben hatte, wurde zunächst für einen angemessenen Preis an das Städtische Schatzamt verkauft und später für ein Vermögen an die Zentralregierung weiterverkauft, als ein holländischer Forscher Grabungen durchführen ließ, um zu beweisen, daß dort das wahre Grab von Christoph Kolumbus lag: das fünfte. Doktor Urbinos Schwestern zogen sich ohne Gelübde ins Kloster der Salesianerinnen zurück, und Fermina Daza wohnte in dem alten Haus ihres Vaters, bis die Villa in La Manga fertiggestellt war. Die betrat sie mit festem Schritt, sie trat ein, um zu befehlen, stellte die englischen Möbel von der Hochzeitsreise auf und dazu passende, die sie nach der Versöhnungsreise kommen ließ, und begann auch sogleich das Haus mit allerlei exotischen Tieren zu bevölkern, die sie selbst auf den Antillenschonern gekauft hatte. Sie betrat das Haus mit dem zurückgewonnenen Ehemann, einem wohlerzogenen Sohn und einer Tochter, die vier Monate nach der Rückkehr geboren war und Ofelia getauft wurde. Doktor Urbino seinerseits begriff, daß es unmöglich war, die Frau so vollständig zurückzuerobern, wie er sie auf der Hochzeitsreise für sich gehabt hatte, denn den Teil ihrer Liebe, der ihm fehlte, hatte sie zusammen mit ihrer besten Zeit ihren Kindern gegeben, aber er lernte, mit den Resten zu leben und glücklich zu sein. Die so ersehnte Harmonie fand ihre Krönung dort, wo es am wenigsten zu erwarten gewesen war. Auf einem Galadiner wurde ein köstliches Gericht aufgetragen,
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