Die Liebe in den Zeiten der Cholera
einzigen Straße, schnurgerade und grün, an die Glücksvögel dort, an das Gespensterhaus, in dem sie aufgewacht war, das Nachthemd durchnäßt von den nicht versiegenden Tränen von Pedra Morales, die viele Jahre zuvor in eben dem Bett, in dem sie schlief, vor Liebe gestorben war. Sie erinnerte sich an den Geschmack der Guayaven, die nie wieder so wie damals schmecken sollten, an diese intensiven Vorahnungen, deren Raunen sich mit dem des Regens vermengte, an die topasfarbenen Abende in San Juan del Cesar, als sie mit dem Hofstaat ihrer übermütigen Kusinen spazieren ging und die Zähne zusammenbiß, damit ihr das Herz nicht überlief, während sie sich dem Telegraphenamt näherten. Sie verkaufte ohne große Umstände das Haus des Vaters, weil sie den Schmerz der Jugend nicht ertragen konnte, den Blick vom Balkon auf den verlassenen kleinen Platz, den sybillinischen Duft der Gardenien in heißen Nächten und das Erschrecken vor ihrem Bild als altmodische Dame, das an dem Nachmittag aufgenommen worden war, als sich ihr Schicksal entschied. Wo immer auch die Erinnerung an jene Zeiten sie hintrieb, stieß sie auf Floren-tino Ariza. Sie behielt jedoch stets die nötige Übersicht, um sich klarzumachen, daß es sich weder um Liebeserinnerungen noch um Reue handelte, sondern um das Abbild eines Kummers, der eine Tränenspur hinterlassen hatte. Ohne es zu wissen, stand sie vor der gleichen Falle des Mitgefühls, die so vielen arglosen Opfern Florentino Arizas' zum Verhängnis geworden war.
Sie klammerte sich an ihren Mann. Und das gerade zu einer Zeit, da er selbst sie am meisten brauchte, weil er sich benachteiligt durch einen Vorsprung von zehn Jahren allein durch die Nebel des Alters vorantastete, obendrein belastet mit der noch ärgeren Benachteiligung, ein Mann und schwächer als sie zu sein. Am Ende kannten sie einander so gut, daß sie noch vor ihrem dreißigsten Hochzeitstag ein einziges geteiltes Wesen zu sein schienen und es ihnen peinlich war, wie oft sie unbeabsichtigt die Gedanken des anderen errieten oder dem anderen in der Öffentlichkeit mit dem, was er gerade sagen wollte, zuvorkamen. Gemeinsam hatten sie den alltäglichen Verständnismangel durchgestanden, die plötzlichen Haßanwandlungen, die gegenseitigen Gemeinheiten und das wunderbare und siegreiche Aufblitzen ehelicher Vertrautheit. Es war die Zeit, in der sie sich am innigsten liebten, ohne Hast und ohne Exzesse, und beide waren sich ihrer unwahrscheinlichen Siege über alle Widrigkeiten bewußter geworden und dafür dankbar. Das Leben sollte ihnen selbstverständlich noch weitere, tödliche Prüfungen auferlegen, doch das war schon nicht mehr wichtig: Sie hatten das andere Ufer erreicht.
D ie Feiern anläßlich der Jahrhundertwende wurden von einem Programm neuartiger Veranstaltungen begleitet, darunter als denkwürdigste die erste Ballonfahrt, die ebenfalls eine Frucht des unerschöpflichen Unternehmungsgeists von Doktor Juvenal Urbino war. Die halbe Stadt kam an der Plaza del Arsenal zusammen, um den Start des riesigen Ballons aus Seidentaft in den Nationalfarben zu bestaunen, der die erste Luftpost nach San Juan de la Ciénaga dreißig Meilen Luftlinie weit beförderte. Doktor Juvenal Urbino und seine Frau, die auf der Weltausstellung in Paris das Wunder des Fliegens kennengelernt hatten, stiegen als erste in den Korb, nach ihnen der Flugingenieur und sechs Ehrengäste. Sie hatten einen Brief des Provinzgouverneurs an die Stadtbehörde von San Juan de la Ciénaga bei sich, in dem für die Nachwelt festgehalten wurde, daß dies die erste Post war, die durch die Lüfte befördert wurde. Ein Reporter des Diario del Comercio fragte Doktor Juvenal Urbino, was denn seine letzten Worte seien, falls er bei dem Abenteuer umkommen sollte, und dieser dachte nicht lange über die Antwort nach, die ihm viele Anfeindungen eintragen sollte: »Meiner Meinung nach«, sagte er, »geht das neunzehnte Jahrhundert für die ganze Welt zu Ende, nur nicht für uns.«
In der staunenden Menschenmenge verloren, die, während der Ballon an Höhe gewann, die Nationalhymne sang, mußte Florentino Ariza einem Mann innerlich Recht geben, dessen Kommentar er im Tumult hörte: Das sei kein Abenteuer für eine Frau und schon gar nicht für eine in Fermina Dazas Alter. Letztendlich war es dann doch nicht so gefährlich. Oder nicht so gefährlich wie deprimierend. Der Ballon trieb langsam durch einen Himmel von einem unglaublichen Blau und erreichte ohne
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