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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Tauben, und sie läßt Ihnen sagen, daß Sie die Taube bitte im geschlossenen Käfig halten sollen, sonst fliegt sie wieder weg, und dies ist das letzte Mal, daß sie sie Ihnen zurückgibt. Florentino Ariza wußte nicht, wie er das deuten sollte: entweder hatte die Taube den Brief unterwegs verloren, oder die Täubnerin hatte beschlossen, sich dumm zu stellen, oder aber sie schickte ihm die Taube, damit er sie ihr wieder zusandte. In letzterem Fall wäre es jedoch natürlich gewesen, ihm die Taube mit einer Antwort zu schicken.
    Am Samstagvormittag, nachdem er es sich lange überlegt hatte, ließ er die Taube wieder mit einem Brief ohne Unterschrift fliegen. Diesmal mußte er nicht bis zum nächsten Tag warten. Derselbe Junge brachte sie ihm nachmittags in einem anderen Käfig mit der Botschaft zurück, hier schickt sie Ihnen noch einmal die Taube, die Ihnen wieder weggeflogen ist und die sie Ihnen vorgestern aus Anstand zurückgeschickt hat und diesmal aus Mitleid, aber jetzt ist es wirklich so, wenn sie noch mal wegfliegt, schickt sie sie nicht wieder. Tránsite Ariza beschäftigte sich bis spät mit der Taube, holte sie aus dem Käfig, wiegte sie in den Armen, versuchte sie mit Kinderliedern zum Schlafen zu bringen und entdeckte plötzlich, daß sie im Fußring ein Zettelchen trug mit einer einzigen Zeile darauf: Ich nehme keine anonymen Briefe an. Florentino Ariza las das mit rasendem Herzen, als ob dies der Höhepunkt seines ersten Abenteuers sei, und von Ungeduld geschüttelt, konnte er in dieser Nacht kaum schlafen. Sehr früh am nächsten Morgen, noch bevor er ins Büro ging, ließ er die Taube wieder mit einem Liebesbriefchen frei, gut leserlich mit seinem vollen Namen unterschrieben, und steckte die frischeste, glühendste und duftendste Rose seines Gartens mit in den Ring.
    Es war nicht so einfach. Nach drei Monaten Belagerung antwortete die schöne Täubnerin immer noch das gleiche: »Ich bin nicht eine von denen.« Sie nahm die Botschaften jedoch weiter an und kam auch zu den Verabredungen, die Florentino Ariza so arrangierte, daß sie wie zufällige Begegnungen wirkten. Er war nicht wiederzuerkennen: Der Liebhaber, der nie das Gesicht zeigte, der liebesgierigste und zugleich der geizigste, der nichts gab, aber alles verlangte, der nicht zuließ, daß irgend jemand eine Spur in seinem Herzen hinterließ, der verstohlene Jäger kam aus seiner Deckung und gab sich im Überschwang von signierten Briefen und galanten Geschenken zu erkennen und drehte unvorsichtige Runden um das Haus der Täubnerin, in zwei Fällen sogar, als der Ehemann weder auf Reisen noch auf dem Markt war. Es war das einzige Mal seit den Zeiten der ersten Leidenschaft, daß Florentino Ariza sich von einem Liebespfeil getroffen fühlte. Sechs Monate nach der ersten Begegnung trafen sie sich endlich in der Kabine eines Flußdampfers, der zum Neuanstrich am Flußkai lag. Es war ein wundervoller Nachmittag. Olimpia Zuleta gab sich, ganz flattrige Täubnerin, fröhlich der Liebe hin und blieb dann zufrieden stundenlang nackt in beschaulicher Ruhe liegen, was für sie ebensoviel von der Liebe hatte wie die Liebe selbst. Die Kabine war ausgeräumt, erst halb gestrichen, und den Geruch des Terpentins konnte man gut als Erinnerung an einen glücklichen Nachmittag davontragen. Plötzlich, einer unbegreiflichen Eingebung folgend, öffnete Florentino Ariza eine Farbbüchse, die von der Koje aus zu erreichen war, tauchte den Zeigefinger in die Farbe und malte auf den Venushügel der schönen Täubnerin einen Pfeil, der blutend nach Süden zeigte, und schrieb ihr auf den Bauch: Das ist meine Muschi. In der gleichen Nacht zog sich Olimpia Zuleta, ohne an die Aufschrift zu denken, vor ihrem Mann aus. Der sagte kein Wort, atmete nicht einmal anders, nichts, sondern ging, während sie sich das Nachthemd überzog, ins Bad, holte sein Rasiermesser und trennte ihr mit einem einzigen Schnitt die Kehle durch. Florentino Ariza erfuhr es erst viele Tage später, als der flüchtige Ehemann festgenommen wurde und den Zeitungen die Gründe für das Verbrechen und seine Durchführung schilderte. Viele Jahre lang dachte Florentino Ariza voller Angst an die unterzeichneten Briefe, zählte die Haftjahre des Mörders mit, der ihn von seinen Geschäften auf den Schiffen gut kannte, fürchtete dabei jedoch nicht so sehr den Schnitt des Rasiermessers am Hals als das Mißgeschick, Fermina Daza könne so von seiner Untreue erfahren. Es war in jenen Jahren des Wartens, als

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