Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Zwischenfälle seinen Bestimmungsort. Sie flogen ruhig mit einem sanften und günstigen Wind in geringer Höhe über die Ausläufer der verschneiten Höhenzüge und dann über das weite Meer der Ciénaga Grande.
Wie Gott selbst sahen sie vom Himmel aus die Ruinen des alten und heroischen Cartagena de las Indias, der schönsten Stadt der Welt, von ihren Einwohnern wegen der Cholera in Panik verlassen, nachdem sie drei Jahrhunderte lang Piratenüberfällen und jeder Art von Belagerung durch die Engländer standgehalten hatte. Sie sahen die unversehrten Stadtmauern, die zugewucherten Straßen, die von den Bougainvilleen verschlungenen Festungen, die Marmorpaläste mit den Goldaltären und den Vizekönigen, die pestkrank in ihren Rüstungen verfault waren.
Sie flogen über die Pfahlbauten von den Trojas de Cataca, die in irrwitzigen Farben angestrichen waren, über die Zuchtställe für eßbare Leguane und die Seegärten mit den herabhängenden Balsaminen und Astromelien. Hunderte nackter Kinder warfen sich, vom allgemeinen Geschrei aufgescheucht, ins Wasser, sprangen von den Dächern oder den Kanus, die sie mit erstaunlichem Geschick manövrierten, und tauchten wie die Maifische, um die Wohltätigkeitspakete mit Kleidung, Hustensaftflaschen und Nahrungsmitteln zu ergattern, die ihnen die schöne Dame mit dem Federhut aus dem Korb des Ballons zuwarf.
Sie flogen über den schattigen Ozean der Bananenplantagen, deren Stille wie ein tödlicher Dunst zu ihnen aufstieg, und Fermina Daza erinnerte sich daran, wie sie mit drei oder vier Jahren einmal durch so einen finsteren Wald spaziert war, an der Hand ihrer Mutter, die selbst fast noch wie ein Kind zwischen all den anderen wie sie in Musselin gekleideten Frauen mit den weißen Sonnenschirmen und den Schleierhüten gewirkt hatte. Der Ingenieur des Ballons, der inzwischen die Welt durchs Fernrohr betrachtet hatte, sagte plötzlich: »Die scheinen tot zu sein.« Er reichte Doktor Juvenal Urbino das Fernrohr, und der sah die Ochsenkarren zwischen den Saatfeldern, die Streckenwärterhäuschen an der Eisenbahnlinie, die eisigen Wasserreservoirs, und wo immer er den Blick hinrichtete, menschliche Körper liegen. Jemand sagte, die Cholera wüte in den Dörfern von Ciénaga Grande. Doktor Urbino sah weiter durchs Fernrohr.
»Das muß eine ganz besondere Erscheinungsform der Cholera sein«, meinte er, »denn jeder Tote hat einen Fangschuß im Genick.« Wenig später überflogen sie ein Meer von Schaum und landeten problemlos auf einem Sandstreifen, dessen vom Salz rissiger Boden wie Feuer brannte. Dort standen die Honoratioren, vor der Sonne nur durch einen gewöhnlichen Regenschirm geschützt, die Primarschüler schwenkten ihre Fähnchen im Takt der Hymnen, die Schönheitsköniginnen warteten mit verwelkten Blumen und Kronen aus Goldpappe, dazu die zu jener Zeit beste Blaskapelle der Karibikküste, die Papayera des blühenden Städtchens Gayra. Fermina Daza wünschte sich als einziges ihren Geburtsort wiederzusehen, um ihn mit ihren ältesten Erinnerungen zu vergleichen, doch das wurde ihr und den anderen wegen der Choleragefahr nicht erlaubt. Doktor Urbino überreichte den historischen Brief, der dann später zwischen anderen Papieren verlorengehen und nie mehr gefunden werden sollte, während das ganze Komitee in der Glut der Reden kurz vor dem Erstickungstod stand. Am Ende wurden sie auf Maultieren bis zu der Schiffanlegestelle Pueblo Viejo gebracht, wo die Lagune ins Meer überging, denn dem Ingenieur war es nicht gelungen, den Ballon wieder aufsteigen zu lassen. Fermina Daza war sicher, als kleines Kind mit ihrer Mutter dort in einem von Ochsen gezogenen Wagen vorbeigefahren zu sein. Als Erwachsene hatte sie ihrem Vater mehrmals davon erzählt, doch der beharrte bis zu seinem Tode darauf, daß sie sich daran unmöglich erinnern könne. »Ich selbst erinnere mich sehr gut an diese Reise, und es war auch alles genau so«, sagte er, »sie fand aber mindestens fünf Jahre vor deiner Geburt statt.«
Die Teilnehmer der Ballonexpedition kehrten drei Tage später, mitgenommen von einer stürmischen Nacht auf See, in den Ausgangshafen zurück und wurden dort wie Helden empfangen. In der Menge verloren, war natürlich auch Florentino Ariza dabei, der in Fermina Dazas Antlitz die Spuren des Entsetzens erkannte. Am gleichen Nachmittag noch sah er sie jedoch bei einer Radsportvorführung wieder, die ebenfalls unter der Schirmherrschaft ihres Mannes stand, und es war ihr keine Spur von
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