Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Fahnen an den öffentlichen Gebäuden auf Halbmast gesetzt, und die Glocken aller Kirchen läuteten ohne Unterlaß, bis die Krypta im Familienmausoleum versiegelt war. Eine Künstlergruppe von der Akademie nahm eine Totenmaske ab, die als Form für eine Büste in natürlicher Größe dienen sollte. Doch man kam von dem Plan ab, weil allen dieser getreuliche Abdruck des letzten Grauens unwürdig erschien. Ein namhafter Künstler, der zufällig auf dem Weg nach Europa hier Station gemacht hatte, bemalte in pathetischem Realismus eine gigantische Leinwand, auf der man Doktor Urbino in dem tödlichen Augenblick auf der Leiter die Hand nach dem Papagei ausstrecken sah. Das Einzige, was der kruden Wahrheit der Geschichte widersprach, war, daß er auf dem Bild nicht das Hemd ohne Kragen und die grüngestreiften Hosenträger trug, sondern die Melone und den schwarzen Gehrock von einem Pressefoto aus den Jahren der Cholera. Damit alle es sehen konnten, wurde dieses Gemälde wenige Monate nach der Tragödie in der weitläufigen Galerie » El Alambre de Oro « ausgestellt, einem Geschäft für Importwaren, durch das die ganze Stadt defilierte. Später hing das Bild an den Wänden jedweder öffentlichen und privaten Institution, die sich verpflichtet fühlte, dem Gedächtnis des bedeutenden Patriziers Tribut zu zollen, und schließlich wurde es im Rahmen einer zweiten Totenfeier in der Kunstakademie aufgehängt, aus der es viele Jahre später die Kunststudenten eigenhändig wieder hinaustrugen, um es auf der Plaza de la Universidad zu verbrennen, als Symbol einer verabscheuungswürdigen Zeit und Ästhetik. Vom ersten Augenblick ihres Witwendaseins an wurde deutlich, daß Fermina Daza nicht so hilflos war, wie ihr Mann befürchtet hatte. Sie war unbeugsam in ihrem Entschluß, den Leichnam ihres Mannes nicht zugunsten irgendeiner Sache benutzen zu lassen, und blieb es auch beim Ehrentelegramm des Präsidenten der Republik, der angeordnet hatte, ihn auf einem beleuchteten Katafalk im Festsaal des Provinzgouvernements aufzubahren. Mit der gleichen ruhigen Entschiedenheit lehnte sie eine Totenwache in der Kathedrale ab, um die sie der Erzbischof persönlich gebeten hatte, und gestand nur zu, daß man Juvenal Urbino dort während der Totenmesse aufbahrte. Selbst als sich der Sohn, verwirrt von so vielen verschiedenen Ersuchen, einschaltete, blieb Fermina Daza fest bei ihrer bäuerlichen Anschauung, daß die Toten niemandem außer der Familie gehören und daß die Totenwache zu Hause abgehalten werden sollte, mit schwarzem Kaffee und Quarkgebäck, damit jedweder frei wäre, Doktor Urbino auf eigene Weise zu beweinen. Es sollte nicht die traditionelle Totenklage der neun Nächte geben: Die Türen wurden nach dem Begräbnis geschlossen und nicht wieder geöffnet, es sei denn für vertraute Besucher. Im Haus herrschte der Tod. Alle Wertgegenstände waren sicher verwahrt worden, und an den nackten Wänden waren nur noch die Spuren der abgehängten Bilder. Die eigenen und von den Nachbarn ausgeliehenen Stühle waren an die Wände gerückt worden, vom Salon bis in die Schlafzimmer, die leeren Räume wirkten riesig, und die Stimmen hatten einen geisterhaften Hall, da die großen Möbel beiseite geräumt worden waren, bis auf den Konzertflügel, der in seiner Ecke mit einem weißen Laken bedeckt stand. In der Mitte der Bibliothek lag, ohne Sarg, auf dem Schreibtisch seines Vaters, der, der Juvenal Urbino de la Calle gewesen war, das letzte Entsetzen im Antlitz versteint, mit dem schwarzen Umhang und dem Schwert der Ritter vom Heiligen Grab. Neben ihm, ganz in Trauer, bebend, doch Herrin ihrer selbst, empfing Fermina Daza die Beileidsbezeugungen ohne Dramatik und fast ohne sich zu rühren bis elf Uhr morgens am nächsten Tag, als sie mit einem Taschentuch winkend am Portal von ihrem Mann Abschied nahm. Es war ihr nicht leichtgefallen, die Selbstbeherrschung wiederzuerlangen, nachdem sie Digna Pardos Schrei im Patio gehört und den Greis ihres Lebens sterbend im Schlamm gefunden hatte. Ihre erste Reaktion war Hoffnung gewesen, denn seine Augen waren offen, und in ihnen lag der Glanz eines strahlenden Lichts, das sie noch nie in seinen Pupillen gesehen hatte. Sie flehte zu Gott, daß er ihm wenigstens noch einen Augenblick gewähren möge, er sollte nicht gehen, ohne zu wissen, wie sehr sie ihn, ungeachtet ihrer beiden Zweifel, geliebt hatte, und sie spürte den unwiderstehlichen Drang, das Leben mit ihm noch einmal von Anfang an zu beginnen, um
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