Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Sie hegte keinen Zweifel: Dies war das Land des Vergessens.
Ein weiterer ständiger Schrecken war der Krieg. Vom Beginn der Reise an war von der Gefahr die Rede gewesen, auf versprengte Patrouillen zu treffen, und die Viehtreiber hatten ihnen erklärt, wie man jeweils herausfinden konnte, zu welchem Lager diese gehörten, um sich entsprechend zu verhalten. Nicht selten traf man auf einen Trupp berittener Soldaten unter dem Befehl eines Offiziers, der neue Rekruten aushob, indem er sie wie Jungstiere in vollem Galopp mit dem Lasso einfing. Ermattet von so vielen Schrecken, hatte Fermina Daza den des Krieges vergessen, für sie eher eine Legende als eine unmittelbare Bedrohung, bis eines Nachts eine Patrouille unbekannter Herkunft zwei Reisende aus der Karawane entführte und eine halbe Meile von der Rancheria entfernt an einem Glockenturm aufhängte. Lorenzo Daza hatte nichts mit ihnen zu tun gehabt, ließ sie jedoch herunterholen und gab ihnen ein christliches Begräbnis als Dankopfer dafür, daß ihn nicht das gleiche Schicksal ereilt hatte. Das war nur recht und billig. Er war davon aufgewacht, daß die Angreifer ihm einen Gewehrlauf in den Bauch stießen, der Kommandant mit rußgeschwärztem Gesicht leuchtete ihn mit einer Lampe an und fragte, ob er konservativ oder liberal sei.
»Weder das eine noch das andere«, sagte Lorenzo Daza. »Ich bin spanischer Untertan.«
»Glück gehabt!« meinte der Kommandant und verabschiedete sich von ihm mit hochgerecktem Arm: »Es lebe der König!«
Zwei Tage später ritten sie in die leuchtende Ebene hinab, wo das fröhliche Städtchen Valledupar lag. Da gab es Hahnenkämpfe in den Patios, Akkordeonmusik an den Straßenecken, Reiter auf edlen Pferden, Raketen und Glockengeläut. Man war gerade dabei, ein pyrotechnisches Spektakel auszurichten. Fermina bemerkte die Volksfeststimmung nicht einmal. Sie stiegen im Haus von Onkel Lisimaco Sánchez ab, einem Bruder ihrer Mutter, der ihnen auf dem Camino Real entgegengeritten war, hinter sich eine lärmende Reiterschar jugendlicher Verwandter auf den besten Rassepferden der ganzen Provinz, und so waren sie inmitten von krachendem Feuerwerk durch die Straßen des Städtchens heimgeführt worden. Das Haus lag an der Plaza Grande neben der mehrmals ausgebesserten Kirche aus der Kolonialzeit. Es glich mit seinen weitläufigen, düsteren Gemächern und der Veranda, die nach heißem Zuckerrohrsaft roch und auf den Obstgarten hinausführte, eher dem Hauptgebäude einer Hacienda. Kaum waren sie bei den Pferdeställen abgestiegen, füllten sich die Hallen mit zahlreichen unbekannten Verwandten, von deren unerträglicher Herzlichkeit sich Fermina Daza bedrängt fühlte, denn sie war todmüde und wundgeritten, hatte Durchfall und fühlte sich nicht mehr in der Lage, irgend jemanden auf dieser Welt zu mögen. Sie wünschte sich nur eines, einen einsamen und ruhigen Winkel zum Weinen. Ihre Kusine Hildebranda Sánchez, zwei Jahre älter und wie Fermina Daza von herrischem Stolz, war die einzige, die auf den ersten Blick deren Zustand erfaßte - auch sie verzehrte sich in der Glut einer wagemutigen Liebe. Als es Nacht wurde, brachte sie Fermina in das Schlafzimmer, das sie für beide hergerichtet hatte, und es war ihr unbegreiflich, wie diese mit den brennenden Geschwüren auf den Hinterbacken überhaupt noch lebte. Mit Hilfe ihrer Mutter, einer sanften Frau, die dem Gatten so sehr glich wie ein Zwilling dem anderen, bereitete sie ihr ein Sitzbad und linderte mit Arnikakompressen das Brennen, während der Donner vom Feuerwerk das Fundament des Hauses erzittern ließ. Gegen Mitternacht gingen die Gäste, das Volksfest löste sich in mehrere verstreute Restgrüppchen auf, und Hildebranda borgte der Kusine ein weißes Batistnachthemd und half ihr in ein Bett mit glatten Laken und Federkissen, das in Fermina unvermittelt die flüchtige Panik des Glücks auslöste. Als die beiden endlich allein im Schlafzimmer zurückblieben, schob Hildebranda den Riegel vor die Tür und zog unter der Matratze ihres Betts einen braunen Umschlag hervor, der mit den Emblemen des staatlichen Telegraphendienstes versiegelt war. Fermina Daza brauchte nur den Ausdruck strahlender Hinterlist bei der Kusine zu sehen, und schon stieg der nachdenkliche Duft weißer Gardenien wieder in der Erinnerung ihres Herzens auf, sie zerbiß das Lacksiegel und watete dann bis zum Morgengrauen im Tränensumpf der elf stürmischen Telegramme.
Nun erfuhr sie es. Vor Antritt der Reise hatte
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