Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
Vom Netzwerk:
durchgesetzt hatte und die nun auf kleiner Flamme im Kampferdunst ihres Witwenflors verdorrte. Sie mußte sich selbst in der Verstörtheit des Sohnes erkannt haben, denn sie kam ihm zuvor und verteidigte sich mit der Frage, warum er mit dieser durchsichtigen Paraffinhaut zurückkomme.
    »Das ist das Leben, Mutter«, sagte er, »in Paris läuft man grün an.«
    Später, als er neben ihr in der geschlossenen Kutsche fast erstickte, wurde ihm die unbarmherzige Wirklichkeit, die stoßweise durch das Fenster hereindrang, unerträglich. Das Meer war wie aus Asche, die alten freiherrlichen Palais kapitulierten vor der wachsenden Zahl der Bettler, und es war unmöglich, den glühenden Duft des Jasmins in den tödlichen Kloakenschwaden auszumachen. Alles erschien ihm kleiner, schäbiger und düsterer als bei seiner Abreise, und in den Müllhaufen auf den Straßen gab es so viele hungrige Ratten, daß die Kutschpferde scheuten. Auf dem langen Weg vom Hafen bis zu seinem Haus, das mitten im Viertel der Vizekönige lag, entdeckte er nichts, das seines Heimwehs würdig gewesen wäre. Er gab sich geschlagen und wandte, damit seine Mutter es nicht sähe, den Kopf ab, um still zu weinen.
    Das ehemalige Palais des Marques de Casalduero, der Stammsitz der Urbinos de la Calle, hielt sich im allgemeinen Untergang wahrlich nicht am stolzesten. Doktor Juvenal Ur-bino stellte es mit blutendem Herzen fest, sobald er durch den düsteren Flur eingetreten war und im Innengarten den verstaubten Brunnen und das blütenlose Gestrüpp sah, durch das die Leguane huschten, und dann bemerkte, daß auf der breiten Treppe mit dem Messinggeländer, die zu den Haupträumen führte, viele Marmorplatten gesprungen waren oder ganz fehlten. Sein Vater, ein eher aufopfernder als bedeutender Arzt, war während der asiatischen Choleraepidemie, die vor sechs Jahren die Bevölkerung heimgesucht hatte, gestorben, und mit ihm war der Geist des Hauses gestorben. Doña Bianca erstickte an einer Trauer, die auf ewig angelegt war, und hatte die berühmten lyrischen Soireen und die Kammerkonzerte des verstorbenen Gatten durch Vespernovenen ersetzt. Die beiden Schwestern waren trotz ihres natürlichen Charmes und ihrer Begabung zum Frohsinn nur noch Klosterfleisch.
    Doktor Juvenal Urbino schlief in der Nacht seiner Heimkehr, von der Dunkelheit und der Stille verängstigt, nicht einen Augenblick. Er betete drei Rosenkränze zum Heiligen Geist und alle Gebete, die er kannte, um Unbill, Schiffbruch und jede lauernde Gefahr der Nacht zu bannen, während eine Rohrdommel, die durch die nicht richtig geschlossene Tür hereingekommen war, zu jeder vollen Stunde im Schlafzimmer sang. Ihn marterten die irren Schreie der geisteskranken Frauen im nahe gelegenen Spital La Divina Pastora, die mitleidlosen Tropfen, die vom Wasserfilter auf die irdene Schüssel fielen und mit ihrem Widerhall das Haus erfüllten, die spindelbeinigen Schritte der im Schlafzimmer umherirrenden Rohrdommel, seine angeborene Angst vor der Dunkelheit, die unsichtbare Gegenwart des toten Vaters in der Weite des schlafenden Herrenhauses. Als die Rohrdommel zusammen mit den Hähnen der Nachbarschaft die fünfte Stunde anschlug, überantwortete sich Doktor Juvenal Urbino mit Leib und Seele der göttlichen Vorsehung, denn er fühlte nicht die Kraft in sich, noch einen Tag länger in dieser Heimat des Verfalls zu leben. Die Zuneigung seiner Familie jedoch, die Sonntage auf dem Land und die begehrlichen Schmeicheleien der heiratsfähigen Mädchen seiner Schicht milderten schließlich die Bitterkeit jenes ersten Eindrucks. Er gewöhnte sich nach und nach wieder an die schwüle Oktoberhitze, an die exzessiven Gerüche, an die vorschnellen Urteile seiner Freunde und an das ewige: Keine Sorge, Doktor, morgen sehen wir weiter, bis er schließlich den Verlockungen der Gewohnheit erlag. Bald hatte er eine naheliegende Rechtfertigung für seine Selbstaufgabe gefunden. Dies sei seine Welt, sagte er sich, die triste und beklemmende Welt, die Gott ihm beschieden habe, und ihr sei er verpflichtet.
    Als erstes nahm er die Praxis seines Vaters in Besitz. Er ließ die harten und strengen englischen Möbel stehen, deren Holz in der Kälte des Morgengrauens stöhnte, verbannte aber die wissenschaftlichen Traktate aus der Zeit der Vizekönige und der romantischen Medizin auf den Dachboden und stellte statt dessen die der neuen französischen Schule in die verglasten Bücherschränke. Er entfernte die verblichenen Drucke, bis auf

Weitere Kostenlose Bücher