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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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persönlich, um wenigstens einen Augenblick mit ihr sprechen zu können. Er erreichte es nicht. Tránsite Ariza, die einen verhängnisvollen Entschluß ihres Sohnes befürchtete, vergaß ihren Stolz und bat Fermina Daza um die Gunst von fünf Minuten. Diese empfing sie für einen Augenblick stehend im Hausflur, ohne sie hereinzubitten und ohne einen Anflug von Schwäche. Zwei Tage später, nach einer Auseinandersetzung mit seiner Mutter, nahm Florentino Ariza in seinem Schlafzimmer den verstaubten Glasschrein von der Wand, in dem er den Zopf wie eine Heiligenreliquie ausgestellt hatte, und Tránsite Ariza selbst gab ihn in dem goldbestickten Samtetui zurück. Florentino Ariza hatte bei den vielen Begegnungen in ihrer beider langem Leben nie wieder Gelegenheit, Fermina Daza allein zu sehen oder unter vier Augen zu sprechen, erst einundfünfzig Jahre, neun Monate und vier Tage später, in der ersten Nacht ihres Witwendaseins, konnte er ihr erneut ewige Treue und stete Liebe schwören.

     

 
     
     
    M it achtundzwanzig Jahren war Doktor Juvenal Urbino der begehrteste Junggeselle der Stadt. Er kehrte von einem langen Aufenthalt aus Paris zurück, wo er weiterführende Studien in Medizin und Chirurgie absolviert hatte, und lieferte, sobald er wieder Festland betreten hatte, schlagende Beweise dafür, daß er keine Minute seiner Zeit verloren hatte. Er kam eleganter zurück, als er gegangen war, auch selbstbeherrschter, und keiner seiner Jahrgangskameraden wirkte in seiner Wissenschaft so gewissenhaft und kenntnisreich wie er, zugleich gab es keinen, der besser nach der modernen Musik tanzte oder gekonnter auf dem Klavier improvisierte. Von seinen Talenten und der Sicherheit seines Familienvermögens verführt, losten die Mädchen aus seinen Kreisen heimlich untereinander aus, welcher er zufallen sollte. Er spielte mit, und doch gelang es ihm, sich, unerreichbar und verlockend, den Zustand der Gnade zu erhalten, bis er widerstandslos den plebejischen Reizen von Fermina Daza erlag.
    Er behauptete gern, daß diese Liebe die Folge einer Fehldiagnose war. Ihm selbst schien es unbegreiflich, wie das hatte geschehen können, gerade in jener Phase seines Lebens, als sich seine ganze Leidenschaft auf die Zukunft seiner Stadt konzentrierte, von der er allzuoft, ohne näher darüber nachzudenken, gesagt hatte, es gäbe in der Welt keine, die ihr gleiche. Wenn er in Paris mit einer Gelegenheitsfreundin im Spätherbst spazierenging, war ihm kein reineres Glück vorstellbar gewesen als jene goldenen Abende mit dem rauhen Geruch der Maronen in den Kohlebecken, mit den schmachtenden Akkordeons und den unersättlichen Verliebten, die niemals aufhörten, sich auf den offenen Terrassen zu küssen, hatte sich aber dennoch, Hand aufs Herz, dazu bekannt, daß er nicht bereit war, all dies für einen einzigen Augenblick seiner Karibik im April zu tauschen. Er war noch zu jung gewesen, um zu wissen, daß das Gedächtnis des Herzens die schlechten Erinnerungen ausmerzt und die guten erhöht und daß es uns dank dieses Kunststücks gelingt, mit der Vergangenheit zu leben. Als er aber dann von der Schiffsreling aus das weiße Vorgebirge des Kolonialviertels sah, die reglosen Hühnergeier auf den Dächern, die ärmlichen Kleider, die man zum Trocknen auf die Balkone gehängt hatte, erst da begriff er, daß er eine allzu leichte Beute der mildtätigen Fallen des Heimwehs gewesen war.
    In der Bucht bahnte sich das Schiff seinen Weg durch eine schwimmende Decke von ertrunkenen Tieren, und die meisten Passagiere flüchteten sich vor dem pestilenzialischen Gestank in ihre Kabinen. Der junge Arzt stieg perfekt gekleidet die Gangway hinunter, mit Weste und Staubmantel, er trug einen jugendlichen Pasteur-Bart und das Haar von einem geraden, bleichen Scheitel geteilt und hatte genügend Contenance, sich nicht anmerken zu lassen, daß ihm Angst, nicht Trauer, die Kehle zuschnürte. Auf dem fast leeren Kai, der von barfüßigen Soldaten ohne Uniform bewacht wurde, erwarteten ihn die Mutter und die Schwestern zusammen mit seinen engsten Freunden. Sie wirkten trotz ihres weltläufigen Gehabes verhärmt und zukunftslos auf ihn, sie sprachen von der Krise und vom Bürgerkrieg als von etwas Fernem und Fremdem, doch in ihren Stimmen war ein verstecktes Beben und in aller Augen eine Unsicherheit, die ihre Worte Lügen strafte. Am meisten erschütterte ihn die Mutter, eine noch junge Frau, die sich mit ihrer Eleganz und ihrem gesellschaftlichen Unternehmungsgeist

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