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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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später wieder öffnen, zu der Zeit, als Fermina Daza bei der Christmette zum ersten Mal Florentino Ariza von nahem sah. Der Kreuzgang des Klosters von Santa Clara war, einschließlich der Gartenpfade, in der dritten Woche übervoll, so daß der doppelt so große Gemüsegarten des Ordens zum Friedhof erklärt werden mußte. Dort wurden tiefe Gräber ausgehoben, um hastig ohne Särge auf drei Ebenen beerdigen zu können, aber auch darauf mußte man dann verzichten, weil der vollgesogene Boden einem Schwamm glich, der, wenn man darauftrat, eine widerliche Blutbrühe absonderte. So wurde angeordnet, mit den Begräbnissen in »La Mano de Dios« fortzufahren, einem Gut für Mastviehzucht, knapp eine Meile von der Stadt entfernt, das später zum Städtischen Friedhof geweiht wurde. Seitdem die Cholerasperre ausgerufen worden war, wurde jede Viertelstunde, Tag und Nacht, eine Kanone vom Kastell der Ortsgarnison abgefeuert, da die Bürger dem Irrglauben anhingen, Pulver reinige die Luft. Die Cholera traf die schwarze Bevölkerung zwar heftiger, da diese weitaus zahlreicher und ärmer war, breitete sich tatsächlich aber ohne Rücksicht auf Farbe oder Stammbaum aus. Sie hörte so plötzlich auf, wie sie begonnen hatte, ohne daß die Zahl ihrer Opfer je bekannt wurde, nicht weil es unmöglich gewesen wäre, diese zu bestimmen, sondern weil die Scham über das eigene Unglück eine unserer verbreitetsten Tugenden ist. Doktor Marco Aurelio Urbino, Juvenals Vater, war der zivile Held jener unglückseligen Tage und auch ihr angesehenstes Opfer. Auf offizielle Anweisung arbeitete er eine sanitäre Strategie aus und leitete persönlich die beschlossenen Maßnahmen. Aus eigener Initiative griff er dann auch bei allen Angelegenheiten des öffentlichen Lebens ein, so daß es in den kritischsten Momenten der Pest schließlich keine ihm übergeordnete Autorität mehr zu geben schien. Jahre später, als Doktor Juvenal Urbino die Chronik jener Tage durchsah, stellte er fest, daß die Methode seines Vaters eher karitativ als wissenschaftlich begründet war, daß sie in vielerlei Hinsicht gegen die Vernunft verstoßen und daher die Gefräßigkeit der Pest sogar noch gefördert hatte. Er stellte es mit dem Mitgefühl der Söhne fest, aus denen die Zeit nach und nach Väter ihrer Väter macht. Zum ersten Mal schmerzte es ihn, daß er dem Vater nicht in der Einsamkeit seiner Fehler hatte beistehen können. Er sprach diesem jedoch nicht seine Verdienste ab: Mit seinem Fleiß und seiner Opferbereitschaft, vor allem aber mit seiner persönlichen Tapferkeit, hatte er sich die Ehrungen wohl verdient, die ihm, als die Stadt sich von dem Unglück erholt hatte, erwiesen wurden. Es war nur gerecht, daß sein Name unter den Namen so vieler Helden aus weniger ehrenhaften Kriegen unvergessen blieb. Er hatte seinen Ruhm nicht erlebt. Als er an sich die gleichen fatalen Veränderungen feststellen mußte wie bei denen, derer er sich erbarmt hatte, versuchte er erst gar nicht, die sinnlose Schlacht zu führen, sondern kehrte sich von der Welt ab, um niemanden anzustecken. Er schloß sich in eines der Arztzimmer des Hospital de la Misericordia ein und blieb den Rufen seiner Kollegen und dem Flehen seiner Angehörigen gegenüber taub. Fern der Pestkranken, die auf den überfüllten Gängen im Sterben lagen, schrieb er an seine Frau und seine Kinder, voller Dankbarkeit dafür, daß es sie gegeben hatte, einen fiebrigen Liebesbrief, in dem offenbar wurde, wie sehr und mit welcher Gier er das Leben geliebt hatte. Es war ein Abschied auf zwanzig herzzerreißenden Seiten, auf denen sich das Fortschreiten der Krankheit an der schlechter werdenden Schrift ablesen ließ. Man mußte den Verfasser nicht gekannt haben, um zu erkennen, daß die Unterschrift mit dem letzten Atemzug geschrieben worden war. Seinen Anweisungen entsprechend verschwand der aschgraue Körper auf dem Städtischen Friedhof und wurde von niemandem, der ihn geliebt hatte, gesehen.
    Doktor Juvenal Urbino erhielt das Telegramm drei Tage später in Paris während eines Diners mit Freunden und stieß mit Champagner auf das Gedächtnis seines Vaters an. Er sagte: »Er ist ein guter Mensch gewesen.« Später sollte er sich seine mangelnde Reife vorwerfen: Er war der Wirklichkeit aus dem Weg gegangen, um nicht zu weinen. Nach drei Wochen erhielt er eine Abschrift des Abschiedsbriefes und kapitulierte vor der Wahrheit. Auf einen Schlag enthüllte sich ihm ganz das Bild dieses Mannes, den er länger als jeden

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