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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Stiefmütterchens in einem Brief, den die Zeit gelöscht hatte. Fermina Daza bewahrte ihr Bild viele Jahre lang auf der ersten Seite eines Familienalbums auf, bis es von dort verschwand, ohne daß jemand gewußt hätte, wann und wie, und durch eine Reihe unglaublicher Zufälle in die Hände von Florentino Ariza gelangte, als beide schon über sechzig waren. Der Platz vor dem Portal de los Escribanos war überfüllt bis hinauf zu den Baikonen, als Fermina und Hildebranda aus dem Atelier des Belgiers kamen. Sie hatten vergessen, daß ihre Gesichter weiß von Stärkemehl und die Lippen mit einer schokoladenfarbenen Pomade bemalt waren und daß ihre Kleidung weder der Uhrzeit noch der Epoche entsprach. Auf der Straße empfing man sie mit Pfiffen und Gejohle. Sie versuchten dem allgemeinen Spott zu entkommen, waren aber schon eingekreist, als sich der Landauer mit den Goldfuchsen einen Weg durch den Menschenauflauf bahnte. Das Gejohle verstummte, und die feindseligen Grüppchen zerstreuten sich. Hildebranda sollte nie den ersten Anblick des Mannes vergessen, der auf dem Trittbrett erschien, seinen glänzenden Zylinder, seine Brokatweste, seine überlegten Gebärden, die Sanftheit seiner Augen und die Autorität seiner Gegenwart.
    Obwohl sie ihn nie gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort. Fermina Daza hatte an einem Nachmittag im vergangenen Monat eher zufällig und ohne jede Anteilnahme von ihm gesprochen, als sie nicht am Haus des Marques de Casalduero hatte vorbeigehen wollen, weil dort der Landauer mit den Goldfuchsen vor dem Portal stand. Sie hatte erzählt, wer der Besitzer war, und versucht, Hildebranda die Gründe ihrer Abneigung zu erklären, ohne jedoch sein Werben mit einem Wort zu erwähnen. Hildebranda hatte den Vorfall vergessen. Als sie ihn jedoch als Märchengestalt am Wagenschlag erkannte, den einen Fuß auf der Erde, den anderen auf dem Trittbrett, erschienen ihr die Gründe ihrer Kusine unbegreiflich.
    »Erweisen Sie mir den Gefallen und steigen Sie ein«, sagte Doktor Juvenal Urbino zu ihnen. »Ich fahre Sie, wohin Sie auch befehlen.«
    Fermina Daza setzte zu einer ablehnenden Geste an, aber Hildebranda hatte schon angenommen. Doktor Urbino sprang auf die Erde und half ihr mit den Fingerspitzen, fast ohne sie zu berühren, in den Wagen, und Fermina blieb keine andere Wahl, sie stieg hinter der Kusine ein, und ihr Gesicht brannte ob der Peinlichkeit.
    Das Haus lag nur drei Straßen entfernt. Die Kusinen hatten nicht bemerkt, wie Doktor Urbino sich mit dem Kutscher absprach, doch etwas dergleichen mußte stattgefunden haben, denn die Fahrt mit der Kutsche dauerte über eine halbe Stunde. Die beiden saßen auf dem Hauptsitz, er, mit dem Rücken in Fahrtrichtung, saß ihnen gegenüber. Fermina Daza drehte das Gesicht zum Fenster und versenkte sich in die Leere. Hildebranda hingegen war entzückt, und noch entzückter über ihr Entzücken war Doktor Urbino. Sobald der Wagen anfuhr, nahm sie den warmen Geruch des Naturleders wahr, die Intimität dieses ausgepolsterten Interieurs, und sagte, das sei so recht ein Platz, um sein Leben zu verbringen. Bald begannen sie zu lachen, scherzten wie alte Freunde und kamen dann auf ein einfaches Sprachspiel, das darin bestand, nach jeder Silbe eines Worts eine feststehende einzusetzen. Sie taten so, als könne Fermina sie nicht verstehen, wußten dabei aber genau, daß sie nicht nur alles verstand, sondern auch ganz Ohr war, und deshalb machten sie es ja auch.
    Nachdem sie eine Weile viel gelacht hatten, bekannte Hildebranda, daß sie die Qual der Stiefeletten nicht länger ertragen könne.
    »Nichts leichter als das«, sagte Doktor Urbino. »Mal sehen, wer zuerst fertig ist.«
    Er begann die Schnürsenkel seiner Halbstiefel zu lösen, und Hildebranda nahm die Herausforderung an. Es war nicht leicht für sie, da das Fischbeinkorsett sie daran hinderte, sich vorzubeugen, aber Doktor Urbino trödelte absichtlich, bis sie ihre Stiefeletten mit einem triumphierenden Lachen, als habe sie sie gerade aus einem Weiher gefischt, unter dem Rock hervorzog. Beide schauten auf Fermina und sahen ihr herrliches Amselprofil spitzer denn je vor der Feuersbrunst des Abends. Sie war dreifach wütend: über die Situation, in die sie unverdient geraten war, über das lockere Benehmen von Hildebranda und über die Gewißheit, daß die Kutsche sinnlos Runden drehte, um die Ankunft hinauszuzögern. Doch Hildebranda stach der Hafer.
    »Jetzt merk ich's erst«, sagte sie, »nicht die Schuhe haben

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