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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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mich gestört, sondern dieser Drahtkäfig.« Doktor Urbino begriff, daß sie den Reifrock meinte, und packte die Gelegenheit beim Schopf. »Nichts leichter als das«, sagte er, »ziehen Sie ihn aus.« Mit der schnellen Gebärde eines Taschenspielers zog er sein Schnupftuch hervor und verband sich damit die Augen. »Ich sehe nichts«, sagte er.
    Die Augenbinde hob die klar gezeichneten Lippen zwischen schwarzem Kinnbart und dem an den Spitzen gezwirbelten Schnurrbart hervor, und Hildebranda fühlte sich plötzlich von Panik geschüttelt. Sie schaute zu Fermina hinüber, der man jetzt nicht mehr die Wut, sondern nur noch die Angst ansah, Hildebranda könne tatsächlich den Rock ausziehen.
    Diese wurde ernst und fragte in der Fingersprache: »Was sollen wir tun?« Fermina antwortete im gleichen Code, daß sie sich aus der fahrenden Kutsche stürzen würde, wenn sie nicht unverzüglich heimführen. »Ich warte«, sagte der Arzt. »Sie können herschauen«, sagte Hildebranda. Als Doktor Urbino sich die Binde abgenommen hatte, sah er, daß Hildebranda verändert war, und begriff, das Spiel war zu Ende und hatte schlecht geendet. Auf ein Zeichen von ihm wendete der Kutscher den Wagen und fuhr, als der Laternenanzünder gerade die Straßenlaternen ansteckte, in den Parque de los Evangelios ein. Von allen Kirchen klang das Angelusläuten. Hildebranda stieg schnell aus, etwas verstört von der Vorstellung, die Kusine verärgert zu haben, und verabschiedete sich von dem Arzt mit einem formlosen Händedruck. Fermina machte es ihr nach, doch als sie die Hand im Atlashandschuh zurückziehen wollte, drückte ihr Doktor Urbino kräftig den Finger des Herzens. »Ich warte auf Ihre Antwort«, sagte er. Woraufhin Fermina heftiger zog und der leere Handschuh in der Hand des Arztes hängenblieb, doch sie wartete nicht darauf, ihn wiederzubekommen. Ohne etwas zu essen, ging sie zu Bett. Hildebranda kam, nachdem sie mit Gala Placidia in der Küche zu Abend gegessen hatte, so als sei nichts vorgefallen, ins Schlafzimmer und äußerte sich mit ihrem natürlichen Witz über die Vorfälle des Nachmittags. Sie verbarg nicht die Begeisterung über Doktor Urbino, über seine Eleganz und sein einnehmendes Wesen. Fermina kam ihr mit keiner Bemerkung entgegen, hatte sich jedoch von ihrem Ärger erholt. Dann, plötzlich, gestand ihr Hildebranda, daß sie, als Doktor Urbino sich die Augen verbunden hatte und zwischen den rosigen Lippen seine vollkommenen Zähne zu sehen gewesen waren, den dringlichen Wunsch verspürt habe, ihn abzuküssen. Fermina Daza drehte sich zur Wand und beendete so das Gespräch. Ohne beleidigende Absicht, eher schmunzelnd, aber von ganzem Herzen sagte sie: »Was bist du für ein Flittchen.«
    Sie schlief unruhig, sah allenthalben Doktor Juvenal Urbino, sah ihn lachen, singen, sah die verbundenen Augen, seine Zähne sprühten Schwefelfunken, er machte sich über sie in einem Kauderwelsch ohne feste Regel lustig und saß in einer anderen Kutsche, die hinauf zum Armenfriedhof fuhr. Sie wachte lang vor Tagesanbruch erschöpft auf, blieb mit geschlossenen Augen wach liegen und dachte an die unzähligen Jahre, die sie noch zu leben hatte. Später, während Hildebranda ein Bad nahm, schrieb sie hastig einen Brief, faltete ihn hastig zusammen, steckte ihn hastig in einen Umschlag und ließ ihn, noch bevor Hildebranda aus dem Bad kam, durch Gala Placidia Doktor Juvenal Urbino bringen. Es war ein Brief nach ihrer Art, kein Buchstabe zu viel oder zu wenig, und darin stand nur, ja, Doktor, er solle mit ihrem Vater sprechen.
    Als Florentino Ariza erfuhr, daß Fermina Daza einen Mann mit altem Namen und Vermögen heiraten würde, einen in Europa ausgebildeten und für sein Alter erstaunlich berühmten Arzt, hätte keine Macht der Welt ihn aus seiner Niedergeschlagenheit herausreißen können. Tránsito Ariza tat das Unmögliche, um ihn zu trösten, und redete mit Engelszungen auf ihn ein, als sie merkte, daß er die Sprache und den Appetit verloren hatte und schlaflos die Nächte durchweinte. Erst nach einer Woche erreichte sie, daß er wieder etwas aß. Dann sprach sie bei Leon XII. Loayza vor, dem einzigen Überlebenden der drei Brüder, und flehte ihn, ohne ihm den Grund zu erklären, an, er möge dem Neffen irgendeine Anstellung in der Schiffahrtsgesellschaft geben, es müsse nur an irgendeinem im Dickicht des Magdalena verlorenen Hafen sein, wo es weder eine Post noch eine Telegraphenstation gäbe und er niemandem begegne, der ihm auch

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