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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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sechs Erste-Klasse-Kabinen untergebracht, und am Bug befand sich ein zum Fluß hin offener Aufenthaltsraum mit geschnitzten Holzgeländern und Eisenpfeilern, an denen die einfachen Passagiere nachts ihre Hängematten befestigten. Doch im Unterschied zu den alten Dampfern hatten diese Schiffe keine Schaufelräder an den Seiten, sondern achtern, unterhalb der stickigen Toiletten des Passagierdecks, ein riesiges Rad mit horizontalen Schaufeln. Florentino Ariza hatte sich, als er an einem Julisonntag morgens um sieben an Bord ging, nicht die Mühe gemacht, gleich das Schiff zu erkunden, wie es fast instinktiv all diejenigen machten, die zum ersten Mal reisten. Erst gegen Abend wurde ihm seine neue Wirklichkeit bewußt, als sie an den Häusern von Calamar vorbeifuhren und er, um Wasser zu lassen, zum Achterschiff ging und durch eine Luke in der Toilette das gigantische Balkenrad sah, das sich zu seinen Füßen in einem vulkanischen Getöse von Schaum und glühend heißen Dämpfen drehte. Er war noch nie gereist. Er hatte einen Blechkoffer mit der Winterkleidung bei sich, die monatlich gekauften illustrierten Romanheftchen, von ihm selbst in Pappdeckel eingebunden, sowie die Liebeslyrik, die er auswendig rezitieren konnte, Bändchen, die vom vielen Lesen schon fast zu Staub zerfielen. Die Geige hatte er zurückgelassen, zu sehr erinnerte sie an sein Unglück, aber die Mutter hatte ihm den Petate aufgedrängt, eine volkstümliche und sehr praktische Schlafgelegenheit: ein Kissen, ein Laken, eine Zinnwanne und ein Moskitonetz, alles in eine Schilfmatte gewickelt und mit zwei Hanfseilen festgezurrt, um im Notfall eine Hängematte aufhängen zu können. Florentino Ariza hatte den Petate nicht mitnehmen wollen, da er ihm in einer Kabine mit bezogenem Bett unnötig erschien, aber bereits in der ersten Nacht mußte er wieder einmal dankbar die Klugheit seiner Mutter anerkennen.
    Tatsächlich geleitete nämlich im letzten Augenblick der Provinzgouverneur persönlich einen an jenem Morgen mit einem Schiff aus Europa eingetroffenen Passagier in Abendanzug an Bord. Dieser hatte die Reise sogleich fortsetzen wollen, mit Frau und Tochter und dem livrierten Diener und den sieben goldverzierten Koffern, die nur mit Mühe über die Treppen bugsiert werden konnten. Der Kapitän, ein Riese aus Curacao, appellierte an die patriotischen Gefühle der Einheimischen, um die unvorhergesehenen Passagiere unterzubringen. Er erklärte Florentino Ariza in einem Gemisch aus Spanisch und Papiamento, daß der Herr im Abendanzug der neue englische Gesandte sei, der in die Hauptstadt der Republik reise, und erinnerte ihn daran, daß dieses Königreich entscheidende Mittel für unsere Unabhängigkeit von der spanischen Herrschaft beigesteuert habe, folglich kein Opfer zu groß sei, damit sich eine solch ehrwürdige Familie bei uns wohler als bei sich zu Hause fühle. Florentino Ariza verzichtete selbstverständlich auf die Kabine.
    Am Anfang bereute er es nicht, denn der Fluß führte zu jener Jahreszeit reichlich Wasser, und der Dampfer kam in den ersten beiden Nächten ungehindert voran. Nach dem Abendessen um fünf Uhr abends verteilte die Schiffsbesatzung Klappliegen mit Segeltuchbespannung an die Passagiere. Jeder schlug die seine dann, wo es ging, auf, bezog sie mit den Tüchern aus dem Petate und spannte das Moskitonetz darüber. Wer eine Hängematte besaß, hängte sie im Salon auf, und diejenigen, die nichts dabei hatten, legten sich auf die Tische im Speisesaal und wickelten sich in die Tischdecken, die gewöhnlich höchstens zweimal im Lauf der Reise gewechselt wurden. Florentino Ariza blieb den größten Teil der Nacht wach, er glaubte Fermina Dazas Stimme in der frischen Flußbrise zu hören, nährte seine Einsamkeit mit der Erinnerung an sie, hörte ihr Singen im Atem des Dampfers, der sich wie Großwild durch die Finsternis vorpirschte, bis am Horizont die ersten rosigen Streifen auftauchten und der neue Tag plötzlich über ausgedörrte Weiden und dunstige Sümpfe hereinbrach. Da erschien ihm diese Reise als ein weiterer Beweis für die Weisheit seiner Mutter, und er verspürte die Kraft, das Vergessen zu überleben. Nach drei Tagen günstigen Wasserstands wurde es jedoch schwieriger, zwischen unerwarteten Sandbänken und trügerischen Strudeln voranzukommen. Der Fluß strömte trübe und immer schmaler werdend durch einen verschlungenen Wald riesiger Bäume, und nur ab und zu war neben den Brennholzstößen für den Schiffskessel eine

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