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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Strohhütte zu sehen. Das Kreischen der Papageien und der Aufruhr der unsichtbaren Affen ließen die Mittagshitze noch drückender erscheinen. Nachts aber, zum Schlafen, mußte der Dampfer vertäut werden, und dann wurde sogar die schlichte Tatsache, lebendig zu sein, unerträglich. Zu der Hitze und den Schnaken kam der Gestank des eingesalzenen Fleischs, das in Streifen an der Reling zum Trocknen aufgehängt war. Die Mehrzahl der Passagiere, insbesondere die Europäer, verließen die zu Faulkammern gewordenen Kabinen und verbrachten die Nacht auf- und ablaufend an Deck, verscheuchten Getier aller Art mit ihrem einzigen Handtuch, mit dem sie sich auch den unaufhörlich rinnenden Schweiß abwischten, und erreichten erschöpft und von Stichen verschwollen den Morgen.
    Zudem war in jenem Jahr ein weiteres Kapitel des wechselvollen Bürgerkriegs zwischen Konservativen und Liberalen angebrochen, so daß der Kapitän strengste Vorsichtsmaßnahmen für die Ordnung an Bord und die Sicherheit der Passagiere getroffen hatte. Um Mißverständnisse und Provokationen zu vermeiden, hatte er den beliebtesten Zeitvertreib auf den Reisen jener Epoche verboten, und zwar das Zielschießen auf die Kaimane, die sich auf den Sandbänken sonnten. Später dann, als eine Gruppe von Passagieren im Verlauf einer Diskussion in zwei feindliche Lager zerfiel, ließ er alle Waffen mit der ehrenwörtlichen Versicherung beschlagnahmen, sie bei Ende der Reise wieder auszuhändigen. Er war sogar dem englischen Gesandten gegenüber unnachgiebig, der bereits am Tag nach der Abfahrt in Jagdkleidung und mit einem Präzisionskarabiner sowie einer doppelläufigen Tigerbüchse erschienen war. Nach dem Hafen von Tenerife, wo sie einen Dampfer kreuzten, der die gelbe Pestflagge gehißt hatte, wurden die Restriktionen noch drastischer. Der Kapitän konnte nichts Näheres über dieses bedrohliche Zeichen in Erfahrung bringen, da das andere Schiff auf seine Signale nicht antwortete. Am gleichen Tag noch begegneten sie aber einem anderen Schiff, das Vieh für Jamaika geladen hatte, und bekamen die Auskunft, daß der Dampfer mit der Pestflagge zwei Cholerakranke an Bord habe und daß am Oberlauf des Flusses, der noch vor ihnen lag, eine Epidemie grassiere. Darauf wurde den Passagieren untersagt, das Schiff zu verlassen, nicht nur in den nächsten Häfen, sondern auch an den unbewohnten Anlegestellen, wo Brennholz geladen wurde. Die Passagiere entwickelten in den restlichen sechs Reisetagen bis zum Zielhafen Gefängnisgewohnheiten. Dazu gehörte das verwerfliche Betrachten eines Päckchens pornographischer Postkarten aus Holland, das von Hand zu Hand ging, ohne daß jemand hätte sagen können, woher es stammte, obwohl jeder Flußveteran sehr wohl wußte, daß es sich allenfalls um eine kleine Musterauswahl aus der legendären Sammlung des Kapitäns handelte. Jedoch selbst diese zukunftslose Ablenkung vermehrte schließlich den Überdruß.
    Florentino Ariza ertrug die Härten der Reise mit der mineralischen Geduld, die seine Mutter schon zur Verzweiflung getrieben und seine Freunde enerviert hatte. Er pflegte mit niemandem Umgang. Die Tage vergingen ihm mühelos, während er an der Reling saß und die reglosen Kaimane beobachtete, die sich auf den Sandbänken sonnten, die Rachen geöffnet, um nach Schmetterlingen zu schnappen. Er sah die aufgescheuchten Reiherschwärme, die sich plötzlich aus den Sümpfen erhoben, die Seekühe, die ihre Jungen an den großen mütterlichen Zitzen stillten und die Passagiere mit ihren klagenden Frauenstimmen in Staunen versetzten. An einem einzigen Tag sah er drei Leichen vorbeitreiben, aufgedunsen, grünlich, auf denen ein paar Geier saßen. Erst kamen zwei Männerkörper, einer ohne Kopf, dann der Körper eines kleinen Mädchens, dessen Medusenhaar sich im Kielwasser des Schiffes wellte. Nie erfuhr er, weil so etwas nicht zu erfahren war, ob es Opfer der Cholera oder des Krieges waren, doch die widerliche Geruchsschwade verseuchte ihm das Andenken an Fermina Daza.
    Es war immer so: Jedwedes Ereignis, ob gut oder schlecht, stand in irgendeinem Bezug zu ihr. Nachts, wenn der Dampfer vertäut wurde und die Mehrzahl der Passagiere ungetröstet an Deck auf und ab ging, las er, fast ohne hinsehen zu müssen, unter der Karbidlampe des Eßzimmers, die als einzige bis zum Morgengrauen angezündet blieb, noch einmal die bebilderten Heftchen durch. Die so oft gelesenen Dramen gewannen ihren ursprünglichen Zauber wieder, wenn er für die

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