Die Liebe in den Zeiten der Cholera
nicht einmal vom Gewicht her der Rede wert sei, und ließ es mit einer geringschätzigen Geste fallen. »Ich finde außerdem, daß zuviel Überflüssiges dran ist«, sagte sie.
Er war verblüfft. So hatte ursprünglich sein Dissertationsthema gelautet: »Vom Vorteil einer Vereinfachung des menschlichen Organismus.« Dieser erschien ihm veraltet, mit vielen sinnlosen oder verdoppelten Funktionen, die für andere Zeitalter des Menschengeschlechts unabdingbar gewesen waren, jedoch nicht mehr für unseres. Ja: Er könnte einfacher und damit weniger verletzlich sein. Er folgerte: »Das ist etwas, was selbstverständlich nur Gott machen kann, es wäre aber nicht schlecht, es zumindest theoretisch zu durchdenken.« Sie lachte amüsiert und so unbefangen, daß er die Gelegenheit nutzte, sie zu umarmen und ihr den ersten Kuß auf den Mund zu geben. Sie kam ihm entgegen, und er fuhr fort, sie zu küssen, auf Wange, Nase, Lider, während er die Hand unter das Bettlaken gleiten ließ und ihr den runden, glatthaarigen Venushügel streichelte: der Venushügel einer Japanerin. Sie schob seine Hand nicht weg, hielt die ihre aber in Alarmbereitschaft, für den Fall, daß er einen Schritt weitergehen sollte.
»Wir wollen die medizinische Lehrstunde nicht fortsetzen«, sagte sie.
»Nein,« sagte er, »das hier wird eine Liebesstunde.« Dann zog er ihr das Laken weg, und sie wehrte sich nicht, sondern beförderte es sogar mit einem schnellen Beinstoß aus der Koje. Sie ertrug die Hitze nicht mehr. Ihr Körper war wellenförmig und elastisch, doch sehr viel herber, als er angezogen wirkte, und er hatte den Eigengeruch eines Bergtieres, weshalb sie unter allen Frauen der Welt zu erkennen war. Wehrlos dem vollen Licht ausgesetzt, stieg ihr ein Schwall kochenden Blutes ins Gesicht, und das einzige, was ihr einfiel, um es zu verbergen, war, sich ihrem Mann an den Hals zu hängen und ihn gründlich zu küssen, sehr fest, bis beide in dem Kuß alle Luft zum Atmen aufgebraucht hatten.
Ihm war wohl bewußt, daß er sie nicht liebte. Er hatte sie geheiratet, weil ihm ihr stolzes Wesen gefiel, ihre Ernsthaftigkeit, ihre Kraft, und eine Prise Eitelkeit war auch bei ihm im Spiel gewesen, doch während sie ihn nun zum ersten Mal küßte, überzeugte er sich davon, daß nichts sie daran hinderte, eine gute Liebe zu entwickeln. In jener ersten Nacht, in der sie bis zum Morgengrauen über alles sprachen, sprachen sie darüber nicht, und sie sollten niemals darüber sprechen. Aber auf lange Sicht hin hatte keiner von beiden sich geirrt.
Als sie bei Tagesanbruch einschliefen, war sie noch immer Jungfrau, sollte es aber nicht mehr lange sein. In der Nacht darauf, nachdem er ihr unter dem Sternenhimmel der Karibik beigebracht hatte, Wiener Walzer zu tanzen, ließ sie ihn nach sich ins Bad gehen, und als er in die Kabine zurückkam, lag sie schon nackt im Bett und erwartete ihn. Sie war es, die dann die Initiative ergriff, und sie gab sich ihm ohne Angst hin, ohne Schmerz, im Übermut eines Abenteuers auf hoher See, und es gab keine Spuren einer blutigen Zeremonie, außer der Ehrenrose auf dem Laken. Beide machten es gut, es war fast ein Wunder, und sie machten es weiter gut bei Nacht und bei Tag und während der restlichen Reise jedes Mal besser, und als sie La Rochelle erreichten, waren sie auf einander eingespielt wie ein altes Liebespaar. Sie blieben sechzehn Monate in Europa, mit Paris als Standquartier, und machten von dort aus kürzere Reisen durch die Nachbarländer. In jener Zeit liebten sie sich täglich und an den Wintersonntagen, wenn sie bis zur Mittagszeit im Bett balgten, mehrmals am Tag. Er war ein triebstarker Mann, zudem gut in Übung, und sie war nicht die Frau, die sich von irgend jemand übervorteilen ließ, also mußten sie sich im Bett mit der geteilten Macht zufriedengeben. Nach drei Monaten fiebrigen Liebeslebens war ihm klar, daß einer von ihnen unfruchtbar sein mußte, und so unterzogen sich beide strengen Untersuchungen im Hospital de la Salpetriere, wo er seine Assistenzzeit absolviert hatte. Es war ein mühseliges, aber fruchtloses Unterfangen. Als sie es jedoch am wenigsten erwarteten, und ohne jegliche medizinische Hilfestellung, ereignete sich das Wunder. Bei ihrer Heimkehr gegen Ende des folgenden Jahres war Fermina Daza im sechsten Monat schwanger und glaubte, die glücklichste Frau auf Erden zu sein. Der von beiden so ersehnte Sohn wurde ohne irgendwelche Auffälligkeiten im Zeichen des Wassermanns geboren und nach
Weitere Kostenlose Bücher