Die Liebe in Grenzen
unten in Lennau. Freut euch, dass der Ruf, den die Goldbachmühle dank eurer tatkräftigen Mitarbeit im Dorf genieÃt, sie nicht von ihrer Bewerbung abgehalten hat. «
» So wie die uns behandeln, brauchen sie sich auch nicht zu wundern « , nörgelte Helmut.
Carmen schien das nicht weiter kommentieren zu wollen, denn sie redete einfach weiter: » Katia ist neunundzwanzig ⦠«
» Ãhm ⦠« Ich hob den Zeigefinger, wollte ihre Aussage richtigstellen, aber Carmen schmetterte meinen Einwand einfach ab.
» Katia ist neun-und-zwan-zig « , wiederholte sie, dieses Mal betonte sie jede einzelne Silbe und hielt mich mit strengem Blick in Schach. » Und was sollten wir noch über dich wissen? « Jetzt sah sie mich wieder freundlich und ermutigend an.
» Also « , sagte ich. » Lernt mich doch einfach kennen und findet es selbst heraus. «
» So machen wir das « , sagten Carmen und Martin unisono und erklärten dann den » offiziellen Teil des Abends « für beendet.
Da die beiden Heimleiter zunächst am Tisch sitzen blieben, erhob ich mich ebenfalls nicht, als die anderen nach und nach den Raum verlieÃen. Suse rauschte als Erste hinaus, Mischa folgte ihr und winkte mir noch einmal zu. Manfred und Helmut verabredeten sich zum Fernsehen, Beate schloss sich ihnen an. Wie Ada aus dem Zimmer gekommen war, konnte ich nicht sagen. Die kann ihre Masse vielleicht bei Bedarf auflösen und sich an einem anderen Ort wieder materialisieren, schoss es mir durch den Kopf â und ich schämte mich sofort für diesen Gedanken. Ada war stark übergewichtig, aber sie hatte auf mich wie eine liebe, völlig eingeschüchterte junge Frau gewirkt. Und als solche lernte ich sie später auch kennen.
Seit früher Kindheit galt sie als bindungsgestört, auch als depressiv, verbunden mit autistischen Zügen. Ihre besorgten Eltern hatten sie, dem Rat des Arztes folgend, mit acht Jahren in eine Kinderpsychiatrie einweisen lassen, angeblich suizidgefährdet. Seitdem war sie mit kurzen Unterbrechungen von einer Anstalt in die nächste weitergereicht worden. Als schlieÃlich Dr. Albrecht sie seinem Bruder vorstellte, hatte sie sich eingekapselt, war völlig verstummt. Dieser Zustand war nicht gerade ein Ausweis dafür gewesen, um sich für einen Platz in der Mühle zu qualifizieren. Aber Martin und Hajo Albrecht hatten keine Selbst- und erst recht keine Fremdgefährdung von ihr ausgehen sehen und dem stillen Mädchen eine Chance auf ein Leben auÃerhalb der Klinik geben wollen, sei es nur für eine kurze Phase. Ada hatte dann in dem halben Jahr, in dem sie im ehemaligen Försterhaus war, mehr mit anderen kommuniziert als in den zehn Jahren zuvor. Ich bewunderte später noch oft ihre seltsame Fähigkeit, sich unbemerkt aus Situationen und Kontexten herauszustehlen, und hätte gern herausgefunden, wie sie das anstellte, kam dem Geheimnis ihrer Unsichtbarkeit aber nie ganz auf die Spur.
Nun saÃen wir zu dritt in dem chaotischen Büro, nachdem wir den Speisesaal als Letzte verlassen hatten, um » den notwendigen Papierkram zu erledigen « , wie Carmen und Martin es genannt hatten.
» Was war eigentlich genau mit Unfällen gemeint? « , fragte ich, weil ich gerade an Helmuts Ausspruch denken musste, als er mir den Unterschied von Mühlenbewohnern und stationär zu Behandelnden verdeutlichen wollte.
Martin wand sich ein wenig, bevor er antwortete: » Das ist eine von unseren mittelgeglückten internen Bezeichnungen. Wir meinen das nicht abfällig. Klang es für dich abfällig? «
Sicherheitshalber verneinte ich.
» Zum Verständnis müsste ich dir etwas über die Entstehungsgeschichte der Goldbachmühle erzählen « , mischte sich Carmen ein.
» Wenn ihr noch so viel Zeit habt « , erwiderte ich.
» Da du hier ein Jahr arbeiten wirst, solltest du es wissen. Also nehmen wir uns die Zeit. Der Vater von Hajo und Martin war der berühmte Psychiater Florian Albrecht, Spezialist auf dem Gebiet der paranoiden Schizophrenie im Kindes- und Jugendalter. « Nach diesem Satz holte sie tief Luft, stieà sie aus, als müsste sie Dampf ablassen, und drehte einen Kugelschreiber zwischen den Fingern. » Ohne ihn wäre Hajo nie Chefarzt der Hedwig-Beimer-Klinik geworden, die sein Vater einst leitete, und ohne seinen Chefarztposten hätten wir nie mit den Unfällen zu tun bekommen.
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