Die Liebe in Grenzen
verschlossen, so sorgsam und mit passgenau abgeklebten Ecken, dass kein Zweifel an der Identität des Absenders möglich ist: KvR, z. Zt. Hotel des Bains, 19 rue Clemenceau, Granville, Frankreich.
Das Wort » Frankreich « hat er in groÃen, doppelt nachgezogenen Druckbuchstaben geschrieben. Er ist also in der Basse-Normandie angekommen, im Norden, am Meer, der vorletzten Station unserer geplanten Reise, und er hat die vollständige Hoteladresse angegeben. Ich soll wissen, wo er gerade ist, daraus schlieÃen, wohin seine Route gehen wird, auch ohne mich, das ist Teil der Botschaft.
Will er, dass ich ihm nachreise, ihn finde? Das wäre ein Klischee, zu viel Romantik, jedenfalls für jemanden wie Konrad. Es würde auch nicht zu seiner Angewohnheit passen, mich um die Ecke denken zu lassen.
Die Tür der Hausmeisterin ist längst wieder zu. Mit zittrigen Fingern halte ich das kleine Päckchen von mir weg wie etwas, das jeden Moment in die Luft gehen kann. Es ist schwerer, als man bei seinem bloÃen Anblick erwartet hätte. Langsam steige ich die Treppen hinauf. Ich fürchte mich, ich freue mich, ich fürchte mich â¦
Oben in der Wohnung finde ich den Hausmeister noch immer in der Küche vor. Er schraubt an der groÃen Therme herum.
» Stimmt auch mit dem Gas etwas nicht? « , frage ich.
» Keine Sorge, alles in Ordnung. Die Heizung geht wieder. Legen Sie mal die Hand auf den Heizkörper. «
Ich folge seiner Anweisung, erleichtert, für einen Moment zu wissen, was ich gerade tun soll.
» Wird warm. Endlich! «
» Sag ich doch. Hat meine Frau Sie noch mal raufgeschickt? «
» Ich musste mich ausweisen. «
» Es sind viele Postbetrüger in Hamburg unterwegs, da kann man nicht vorsichtig genug sein. «
Ich nicke.
» Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten, Herr Oppermann?«
» Da sag ich nicht nein. «
Gerade habe ich eine alte Frau angeschrien, weil sie mir nicht schnell genug meine Post übergeben wollte, jetzt bin ich plötzlich über jeden Aufschub froh. Wenn ich von nichts weiÃ, ist auch nichts passiert, das neue Fragen aufwirft. Niemand drängt mich. Ich kann das Päckchen ungeöffnet liegen lassen, solange ich will â und wenn es für immer ist.
Vorsichtig platziere ich es auf die Ablage unter dem Küchenschrank, hole den Espressokocher aus dem obersten Fach und wende mich dem Hausmeister zu.
» Milch oder Zucker? «
» Beides. Bitte. «
Während Herr Oppermann den letzten trockenen Weihnachtskeks in seine Tasse tunkt, schaue ich bewusst nicht zu dem Päckchen hinüber, obwohl er dreimal fragt, ob ich es nicht aufmachen möchte.
» Nein, nein, hat Zeit. Wollen Sie noch einen Kaffee? «
Als er schlieÃlich geht, bin ich über sämtliche Mieter dieses Hauses besser informiert als Manu, die schon seit drei Jahren hier wohnt.
Anderthalb Stunden später, in denen ich abwechselnd die Küchenkacheln, den grauen Himmel über der Stadt und das Päckchen angesehen habe, kommt unter dem Packpapier eine Holzschachtel zum Vorschein, mit rautenförmigem Etikett: Comtesse du Barry, Les marrons glacés. Wären wirklich kandierte Esskastanien darin, müsste die Schachtel leichter sein. Aus irgendeinem Grund hatte ich damit gerechnet, dass es sich beim nächsten Zeichen um Musik handeln würde, eine neue Auswahl an Liedern, die mich vor weitere Sinndeutungs-Herausforderungen stellen würde. Aber die mir â anders als eine Parkansicht und das Foto einer mumifizierten Katze â vielleicht auch ein paar Antworten geben könnte. Das Gewicht des Päckchens spricht gegen eine CD . Er hätte, eigens um mich zu täuschen, einen Stein oder eine Tüte mit Sand beifügen müssen.
Seit Weihnachten geht es mir besser. Nicht gut, aber besser. Manu ist über Silvester nach Berlin gefahren. Hinter mir liegen vier ruhige Tage, die ich mit meinem über den spontanen Besuch am ersten Weihnachtsfeiertag äuÃerst erfreuten Vater verbrachte. Wir haben uns alte französische Filme angeschaut, sind im Park spazieren gegangen, haben Enten mit altem Brot gefüttert, und ich habe Papas überwiegend stille Anwesenheit genossen. Einmal fuhren wir mit der U-Bahn in den Tierpark wie früher, haben uns lange vor das Wolfsgehege gestellt und einige Sätze darüber gewechselt, was man mit einer fast abgeschlossenen Erzieherinnenausbildung anfangen kann,
Weitere Kostenlose Bücher