Die Liebe ist ein Daemon
irgendwie vermeiden lässt.
Einige behaupten, dass wir in einer alten, mittelalterlichen Stadt leben. Aber sie irren sich, denn unsere Wurzeln reichen noch viel weiter in die Vergangenheit zurück, in eine Zeit, als diese Region noch von den Etruskern bewohnt wurde.
Von diesen Zeiten, in denen man die Zukunft voraussagte und in Häusern aus Tuffstein wohnte, ist nicht viel übrig geblieben, außer das eine oder andere Höhlengrab oder ein paar schwer zu deutende Wandmalereien.
Aus dem Mittelalter hingegen gibt es ganze mit Peperinstein gepflasterte Viertel, Plätze mit dunklen Steinbrunnen und zu Statuen erstarrte Löwen, die auf Türme und Gesimse geklettert sind und die dich mit ihren Augen aus Vulkanstein, der im Lauf der Jahrhunderte hart geworden ist, anstarren und überwachen.
Die dicken Stadtmauern sind geblieben. Hoch und gewaltig wurden sie in der Vergangenheit gebaut, um die Stadt vor Feinden zu schützen. Heute dienen sie vielleicht dazu, uns hier drin einzusperren und andere auszusperren. Denn unsere |15| Stadt sperrt sich gegen alles und gegen jeden, gegen Neuigkeiten und gegen Neuankömmlinge. Wir stammen von einem obskuren Volk ab, das bis heute wenig bekannt ist und seine eigenen Grabstätten, seine eigenen religiösen Kulte und viele Geheimnisse hat. Ein Volk, das diese Geheimnisse seit Jahrtausenden eifrig beschützt. Darum beäugt es heute immer noch alles Neue argwöhnisch, darum misstraut es noch immer allem, was es nicht kennt.
Wenn jemand die richtigen Texte lesen und die geschichtlichen Zusammenhänge richtig deuten würde, könnte unser Geheimnis sogar gelüftet oder wenigstens erahnt werden.
Aber wen kümmert schon eine winzige Stadt, die, von der Welt fast unbemerkt, hinter Hügeln versteckt in einem Tal liegt?
Viterbo hat sich mit all seinen Heimlichkeiten in sich selbst verschlossen – so war es immer schon und alle sind damit zufrieden.
Meine Familie ist der ganz offensichtliche Beweis dafür.
In welchem anderen Winkel der Erde könnte sonst ganz offen eine Gemeinschaft von Engeln leben?
Wir werden in der Stadt respektiert. Vielleicht wurden wir früher auch gefürchtet, aber jetzt honoriert man, dass wir trotz unserer Andersartigkeit, trotz unserer Flügel (oder dem, was davon übrig geblieben ist) mit dieser Stadt groß geworden sind. Wir haben ihre Anfänge miterlebt, wir sind Zeugen ihrer Geschichte und wir sind mit den Vorfahren der |16| heutigen Bewohner aufgewachsen. Tausend Jahre alte freundschaftliche und respektvolle Beziehungen binden uns an diese Menschen und niemand denkt auch nur daran, diese Verbindungen zu kappen.
Dieses Kaff ist im Winter ein bisschen zu grau und ein bisschen zu eng für jemanden, der sechzehn Jahre ist und so gerne die Welt kennenlernen würde. Aber doch ist es der einzige Ort, an dem solche Wesen wie meine Familienangehörigen sich niederlassen und leben können.
Wie meine Familie, wohlgemerkt, aber nicht wie ich.
Meine Familie stammt aus einer uralten Engelsippe und alle ihre Mitglieder sind perfekt – bis auf eine einzige Ausnahme.
Mein Vater ist ein Engel, meine Mutter ist ein Engel und meine Schwester Elena ist ein Engel. Sie sind alle so schön wie Renaissancegemälde, sie haben alle ein Botticelli-Gesicht und alle sind so blond wie ein Weizenfeld im Juni. Und sie haben alle Flügel.
Alle, nur ich nicht.
Ich bin das zweite Kind der Familie, ich habe keine Flügel, und wenn ich zwei Schritte mache, stolpere ich mindestens dreimal dabei über meine eigenen Füße. Vielleicht gelingt mir das auch einigermaßen anmutig, wenn man beim Fallen überhaupt anmutig aussehen kann. Ein Purzelbaum bleibt trotzdem immer ein Purzelbaum.
Meine Schwester war bei dem glücklichen Ereignis meiner Geburt dabei. Sie trug eines von diesen entzückenden Rüschchenkleidern, die Eltern einem hinterrücks anziehen, bevor |17| man alt und vernünftig genug ist, um sie sich vom Leibe zu reißen.
Sie war dabei, in ihrem hellblau-karamellfarbenen Kleidchen und mit den schönen blonden Haaren, die ihr wie lose goldene Fäden über die Schultern fielen, wo sich bereits die ersten zarten und vielversprechenden kleinen Federn zeigten – meine Schwester, in all ihrer von unseren Eltern geerbten Vollkommenheit.
Stellt euch mal das Erstaunen vor, als ich auf die Welt gekommen bin.
Vielleicht kann mir eines Tages jemand erklären, was genau geschehen ist, was außer dem Nieselregen noch alles in der Luft lag. Aber vielleicht gab es da in Wirklichkeit auch
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