Die Liebe ist eine Insel
kann nicht anders.
Paul wusste, wohin sie gingen, er leitete sie beide. Seit ihrer Geburt navigiert Marie auf Sicht. Sie kam an einem Herbsttag bei dichtem Nebel aus dem Bauch ihrer Mutter. Geboren zwischen Blättern. Ihr erster Geruch der Wald von Versailles. Hirsche in der Brunft, die in der Nähe röhrten. Sie schrie in die Nacht hinaus, und ihr Bruder bückte sich. Seine sanften und vertrauensvollen Augen, das Stirnband um seinen Kopf, er hob sie auf.
Solange Paul da war, hat sie nie wieder geschrien.
D ie Türen gehen auf. Der Saal füllt sich. Das Poltern von Schuhen auf den Holzstufen.
Julie leiert leise ihren Text herunter.
Sie tritt ganz nah an den Vorhang heran. Jetzt ist noch alles in Ordnung, doch in ein paar Augenblicken wird sie schutzlos ausgeliefert sein.
Odon geht zu ihr, die Bühne knarrt unter seinem Gewicht. Er sieht seine Tochter an. Ihr erdfarbenes Gesicht. Er drückt sie an sich. Ihre Finger sind eiskalt, ihre Schläfen feucht. Ihr Gesicht ist ganz blass unter dem Ton.
»Du zitterst, meine Tochter.«
Seine breite Hand umschließt ihren Kopf. Er wiegt sie sanft.
»Weißt du, was Sarah Bernhardt sagte? … Das Lampenfieber kommt mit dem Talent.«
Nathalie kommt aus den Kulissen hervor. Geräuschlos. Sie beobachtet sie, lässt ihnen Zeit.
Sie trägt eine unförmige Tunika aus leichtem geblümtem Stoff und eine khakifarbene Hose. Der Sommer hat ihre Sommersprossen verstärkt.
Julie ist mit Lehm beschmiert, ihr Gesicht nicht zu erkennen. Die Beine, das Haar, der Rock, alles im gleichen Ton, einheitlich grau.
Sie nähert sich.
Sie drückt einen Kuss auf das Tongesicht.
»Alles in Ordnung?«
Julie weiß es nicht. Sie hat entsetzliches Lampenfieber.
Nathalie küsst Odon.
»Musstest du sie unbedingt so schminken?«
Er breitet die Hände aus, versucht ein Lächeln, das die Fältchen um seine Augen vertieft. Er ist braun geworden. Die Fältchen sind weiß geblieben.
Sie schiebt ihre Finger zwischen die Streifen des Vorhangs. Die Lamellen berühren sich leicht, es sieht aus wie Regen. Während der Vorstellung werden Bilder einer modernen Stadt auf den Bühnenhintergrund projiziert.
»Ich habe jemanden von der Zeitung im Saal«, sagt Nathalie.
Er dankt ihr.
»Ich tu das nicht für dich, ich tu’s für Julie.«
Sie wechseln einen Blick. Er weiß nicht, ob sie sagt, was sie denkt. Vermutlich schon. Mehr als fünf Jahre leben sie jetzt getrennt und haben sich noch immer nicht zur Scheidung durchringen können. Sie haben ein paarmal darüber gesprochen. Und dann nicht mehr. Sie sagen, dass sie noch nicht bereit dazu sind.
Nathalie wischt sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn.
»Ist es nicht schrecklich heiß hier drin?«
»Wenn ich die Klimaanlage stärker aufdrehe, brennt die Sicherung durch«, sagt Jeff leise.
Er bringt den Digitalisstrauß und legt ihn neben den Vorhang, auf der Bühnenseite.
Jeff liebt Nathalie sehr. Bewundernd mustert er sie. Er hat sie schon immer so angesehen. Als sie mit Odon zusammenlebte, hatte sie ihn manchmal zum Abendessen auf den Kahn eingeladen, für ihn waren das wunderschöne Abende gewesen.
Und dann kam die Jogar. Nathalie ist gegangen. Sie hat geweint.
Deswegen hasst Jeff die Jogar so sehr.
Odon wirft einen Blick auf seine Uhr.
»Fangen wir an.«
Sie stellen sich auf, Yann, Chatt’, Greg, Julie und Damien, fassen sich an den Händen und verschränken die Finger. Das Lampenfieber dringt in ihre Augen. Verwandelt sich in glühende Leidenschaft. Es ist das einzige Licht, das von ihnen bleibt, glänzende Blicke in erdfarbenen Gesichtern.
Spielen macht sie nicht besser, nicht reicher und auch nicht mächtiger. Seit Monaten lernen sie das Tanzen auf dem Seil. Die Selbstbeherrschung nicht verlieren und trotzdem loslassen, Seiltänzer für einen Abend.
Odon nimmt den brigadier , einen mit rotem Samt bezogenen Stock, mit dem er die Schläge ausführt, die den Beginn der Vorstellung ankündigen.
Nathalie nimmt ihren Platz im Saal ein.
Julie geht auf die Bühne.
Der Vorhang ist noch geschlossen. Sie starrt ihn an wie eine Mauer. Dahinter ist Gemurmel zu hören. Männer, Frauen, ein paar alte Leute, keine Kinder.
Marie sitzt im Saal, in der sechsten Reihe, ohne Nachbarn. Ihr Blick wandert, richtet sich schließlich nach vorn, zu dem großen Vorhang, der in weichen Falten herabfällt. Ihre Hände zittern, sie presst sie zwischen die Schenkel.
In ihrer Nähe holt eine Frau ein Bonbon heraus und wickelt es mit langsamen Geräuschen aus dem
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